m e n u
 corona blues - geschenkt  lily und so  leseproben ohne (ge)waehrung  das heulmeisje und ich  lubeck  globally me - and you?  witch tells tiny tales  off the beach - a corona gift // about me




BAUSTELLE ohne Formatierung

Offenbar sind meine englischen Übersetzungen besser als deren deutsche Originale - daher diese Baustelle. Die deutschen Leseproben werden voraussichtlich nach der englischen Fertigstellung des Buches „marke: solo“ (das erste von insgesamt fünf, dann kam die Realität) allmählich wieder reingesetzt.

Dafür kläre ich hier und jetzt auf, warum bisher keine große (irgendwie kam ich fast immer auf 209 Seiten) Werke unter meinem Namen (welchem eigentlich?) gedruckt wurden - nicht nur hatte ich die Fragen danach satt, das Nachdenken darüber hat einiges zum Leuchten gebracht. Glaubt mir, Schreiben ist besser als jedes Kloster.

Als kleine Einleitung möchte ich das momentan häufig verwendet und unbeliebte Wort 'Migration' aufs Papier werfen: "Die längerfristige Verlegung des Lebensmittelpunkts über eine größere Entfernung und administrative Grenze hinweg". Selbst ohne Papiere ist das zwar kein Verbrechen, dafür ein rechtsfreier Raum. Warum? Zunächst einmal handelt es sich oft um Asylbewerber, Flüchtlinge etc. aus einem nicht-europäischen Land, nicht nur Sprache, Kultur, Religion - alles ist anders; einem Europäer in Afrika oder Asien würde es nicht viel besser gehen: man steht dumm da wie Alice in Wunderland und versteht nichts. Als „Besucher“ hat man zwar das nicht immer gewährte Recht auf Gastfreundschaft, auf Dauer und ohne Einladung tendiert man als Betroffene naturgemäß dazu, bescheiden zu schweigen (zumal mit 16 Jahren). Das umfangreiche Reglement hierzu wird von Bürokraten festgesetzt, deren Urahnen bereits hier lebten, und deren Erfahrung mit Ausländern sich vermutlich auf Medien und Ferien in urlaubsgerechten und friedfertigen Ländern beschränkt – meist Juristen (habe lauten hören, da hat sich einiges geändert). Auf der einen Seite des Schreibtisches im Amt oder sonstwo sitzt die ausführende Bürokratie mit deutschen Scheuklappen und null Ahnung von alles außerhalb der eigenen Grenzen; gegenüber hocken “Geduldeten” (ein gräßliches Wort, hab gehört, es ist mittlerweile verpönt – und doch trifft es den Nagel gefühlsmäßig in voller Länge), die wenig oder kein Deutsch können, verschreckt und meist genügsam sind und keineswegs in der Lage, gegen diese Flut an Paragraphen anzustänkern. Als “Geduldete” ist man nur mit hohem Testeronspiegel in der Lage, sich zu wehren - was wiederum die größtenteils friedlichen #Migranten in Verruf bringt und oft populistisch mißbraucht wird. Mir (oder meinem amerikanischen Akzent?) hat man im Jahre 1975 stets mit freundlichem Englisch behandelt. Viele Fürsprecher haben wir* nicht, fast könnte man meinen, heute wird nur dem ein Ohr verliehen, der es sich lobbymäßig leisten kann. Nach drei Dekaden “ungeklärt” hatte ich die Spielchen satt, und machte mich daran, meine alte Identität zurückzuholen, die ich mit 16 Jahren in meiner niederländischen Heimat gelassen hatte, um in Deutschland (es lag am nächsten und schien mir groß genug zum Verschwinden, wäre ich Ire, wäre ich wohl nach England ausgewandert oder umgekehrt) neu anzufangen, und das ging nur from the roots, also in den Niederlanden. Dies hat abermals Jahre gedauert, da ich in meiner Heimat dank etlicher, ähm Mißinterpretationen in Abwesenheit für tot erklärt und anschließend begraben worden war – nobody is perfect und niemand gibt gerne Fehler zu, let‘s face it: Bürokratie ist international. Viele “Geduldeten” haben die Wahl eines solchen Identitätswechsel nicht, obwohl doch vor dem Gesetz alle Menschen gleich sein sollen. Die Aufforderung, die Augen zu schließen, um mal zu erfassen, was man wahrhaftig besitzt von einem anderen Blickwinkel.

Mein Reisedokument (ein Verlegenheits-Ausweis, weil es mich ja nicht gab) hat mir eine Menge Nachteile eingebrockt, ob nun gedankenlos oder um “Geduldeten” möglichst klein zu halten:



*Es mag vermessen klingen, mich selbst als Flüchtling zu bezeichnen: Hunger, Krieg und Gewalt kenne ich nicht, und doch mußte auch ich fliehen. Die Bubbles, die im Netz so geschätzt oder verflucht werden, weil sie mehr trennen als schützen – in genau sowas war/bin ich zum Teil heute noch gefangen. Allein die Verzweiflung, die eine Introvertierte benötigt, um ohne äußere Not oder Abenteuerlust den Sprung ins Nichts zu wagen und dies trotz aller Widrigkeiten durchzustehen, sagt wie notwendig es war zu gehen – obwohl ich das, was ich entfliehen wollte, mitgenommen und dafür unbewußt etwas zurückgelassen habe: das Mädchen Monique, doch das ist ein anderes Thema. Wenn ich mich hier schon als Lobbyist einiger Flüchtlinge ernenne, im Angebot hätte ich noch eine Variante des gängigen Arbeitsverbots, von Bürokraten ausgedacht um... wozu? Hm, war das nun Goethe, der sagte:

"Auch aus Steinen, die einem in den Weg gelegt werden,
kann man Schönes bauen"?

Alle Namen sind geschwärzt, möchte nicht zum Erröten, nur zum Nachdenken bringen, Sinnfreies gehört korrigiert:


2008 wurde übrigens gnädigerweise beschlossen, mir unbefristetes Aufenthaltsrecht zu gewähren, nachdem dieses 33 Jahren lang alle 6 Monaten inkl Gebühr verlängert werden musste - ich glaub, da hatte ich bereits zwei Enkel. Empfänger dankt. Natürlich, ich hätte die Deutsche Nationalität annehmen können wie meine Töchter, kaum waren sie volljährig – so peinlich war ihnen das. Es waren nicht die Menschen in Deutschland, wir haben uns alle immer mit allen gut vertstanden, und doch waren es die Deutschen – sie haben nämlich gewählt und die von ihnen Gewählten haben einiges versäumt. Man hätte die „Slums“ verhindern können und müssen, es hätte die Integration erleichtert, eine vernünftige Verteilung auch in den Schulen war selten. Eine bessere Aufklärung bzw Selbstkritik hätte auch geholfen, anstatt die eigene geldorientierte Politik für zu wenige bezahlbare Wohnungen und ein Ungleichgewicht des Geldes verantwortlich zu machen, hat man es uns Ausländer in die Schuhe geschoben – tolle Munition für rechtsradikales Gedankengut und einer der Gründe, weswegen „integrierte“ Ausländer wie ich sich das „Wir“ längst abgewöhnt, wenn wir nicht liebe Nachbarn und Freunde hätten; der andere Grund wäre die Bürokratie: bekanntlich zieht dieses klobige Ungeheuer nicht nur viele Polen i.d. Heimat zurück. Wir Ausländer sind an allem Schuld, klar, selbst in meiner einst so stolz als „multikulti“ gelobten Heimat sind sie darauf reingefallen - im übrigen ist die Welt groß, wir sind also alle Ausländer.

Musste mal raus.

Wer auf die Leseproben nicht warten mag, "lily & so" (Episoden) oder "corona blues" (mein Corona- Geschenk) steht in voller Länge zur Verfügung, alles andere ist english außer "heulmeisje", einer halben Autobiographie. Man möge es mir nachsehen, wenn ich manches doppelt oder gar dreifach erwähne – eigentlich habe ich am liebsten alles auf Papier vor mir liegen, dieses hin und her mit den (selbstredend #Linux-) Fenstern macht mich kirre.

Setze heute (Aug ‘25) die ersten Kapitel von „marke: solo“ wieder rein, nicht dass ich mit der Übersetzung fertig wär, aber... ernsthaft, der Nächste, der mit mir einen „Deal“ machen möchte, löst unter Umstände einen Schreikrampf aus - leider kamen beide Anfragen aus Trumpland. Ganz eindeutig: momentan sind Europäer mir am liebsten (eine Schande allerdings, dass sie ihre #EU nicht lautstärker unterstutzen, sakranochmal). Die Idee zur Geschichte kam mir nach dem Fall der Mauer, auch wenn es in der Handlung nicht direkt thematisiert wurde. Zwei Dinge waren ausschlaggebend: 1) dass niemand es vorausgesehen hatte, 2) das Verschlucken des armen Ost-Verwandten vom reichen West-Nabob - meine damals ungewöhnliche (oder nicht zugegebene) Sichtweise als Außenseiter. Heute wird spekuliert, diese Behandlung bzw Nicht-Beteiligung sei die Geburtsstunde der AfD. Wie dem auch sei, ich hoffe, den Enttäuschten wird rechtzeitig klar, dass sie hier Beelzebub mit dem Teufel eintauschen, evtl bloß um dem arroganten Nabob eins auszuwischen.

„Die Freiheit des Menschen liegt nicht darin, dass er tun kann, was er will,
sondern dass er nicht tun muss, was er nicht will“.

Rousseau.

1993/94 war ich mit einem Münchner Verlag in Verbindung, dessen Lektorin mir allerdings derart auf den Keks ging mit ihren „immer noch zuviel Öko, könnten Sie nicht noch die Stelle mit Agent Orange streichen…?“ - dann kam der Wisch vom Arbeitsamt (siehe oben) und gab mir den Rest... Die englischen Kapitelnamen können bleiben, obwohl ich die meisten Filme nicht kenne - man wird faul. Oder alt.


marke: solo (1990)



I. the king and i

Hysterisch - er?! Die Empörung schien ihn anschwellen, um Zentimeter wachsen zu lassen, dann gab er sich einen Ruck und stapfte zum Waschbecken, sich im Spiegel darüber begutachtend: zwei blau-blitzende Augen und etwas gerötete Wangen - ja und? Als Mann in den noch lange nicht besten Jahren war es sein gutes Recht, wenn nicht Pflicht, hie und da etwas männlich-gesunde Erregung zu zeigen, sonst machten die Weiber was sie wollten.

"Ich bin nicht hysterisch!" fauchte der Spediteur. "Ein wenig verwundert", räumte er ein, "etwas erstaunt vielleicht..." - Teufel! wie kam er dazu, sich vor der eigenen Angestellte zu rechtfertigen? Sich abwendend, fegten seine Arme einige in einem Büro unvermeidlichen Gegenstände vom Schreibtisch: ein blecherner Aschenbecher samt Inhalt schepperte gegen die Wand, es hagelte bunte Büroklammern und obendrauf legte sich sachte eine schneeweiße Decke aus Schreibmaschinenblättern... Verärgert über die eigene Tolpatschigkeit, drehte er ein paar schnelle Runden um den Schreibtisch, im Vorbeigehen die Statistiken, Poster und Tabellen, die an der Wand hingen, zum Flattern bringend - Tina Turner machte einen Zeitlupen-Kotau, hing nur noch an ihren rassigen Füßen, mit dem Gesicht zur Wand.

"Warum sollte gerade ich hysterisch sein?!" kratzte er sich am Kopf, wie nach Gründen kämmend. "Ich habe eine gutgehende Spedition, soundsoviel gutgehende Wagen, noch mehr gutgehende Fahrer und..."

"Einer ist krank", machte seine Sekretärin den Mund auf.

Er ignorierte den Zwischenruf. "...und eine Sekretärin, der es so verdammich gut geht, dass sie ihrem Chef vor lauter Glückseligkeit an den gutgehenden Kopf zu werfen wagt, er sei hysterisch! Und warum?!" kippte seine Stimme ins Soprane. Er setzte ab und räusperte sich. "Weil dieser Hund von einem Vorgesetzten es gewagt hat, die dubiosen Machenschaften besagter Dame zu kritisieren, ha!" Er schaute finster auf sie herab: war doch gut gesagt, oder? Und so sachlich.

Die Dame hatte die Beine lässig übereinandergeschlagen, sah interessiert auf ihren auf und nieder wippenden Fuß als sei es Buddhas Pendel und - schwieg.

"Macht nichts", zischte er. "Tut nichts zur Sache, nicht aufregen, ich flehe Sie an! Bleiben Sie ruhig sitzen und schauen mir beim herrlichen Gutgehen zu, ich bitte Sie!" Jählings drehte er sich auf dem Absatz um und rauschte hinaus, als fürchte er um die eigene Beherrschung. Leise fiel die Tür ins Schloss. Alle Türe der Firma Münch waren mit einer elektronischen Vorrichtung versehen, die nebenbei das Zuknallen verhinderte.

Dina horchte einen Augenblick aufmerksam, bevor sie das Band festzog, das ihr kastanienbraunes langes Haar zusammenhielt - ein Handgriff, der bei ihr das Ärmelhochkrempeln ersetzte - und sich daranmachte, die alte Ordnung wiederherzustellen. Die knappen Bewegungen verrieten Routine und den Selbstdisziplin einer Frau, die sich unter Kontrolle hatte. Jederzeit.

Im Nu sah der Raum aus wie vor einer knappen Viertelstunde: nüchtern und aufgeräumt - wie dessen Hauptnutznießerin es zu sein vorgab. Sie hatte Übung, war die Ausfälle ihres Chefs gewohnt. Früher hatten die einseitigen Gefechte sich hauptsächlich in seinem Luxusbüro nebenan abgespielt. Ein teurer Spass. Das Büro eines erfolgreichen Geschäftsmannes muss Eindruck schinden: ein Stuhl mit nur drei Beinen, knirschende Glasscherben unter den Schuhen eines potentiellen Kunden - das ging gar nicht. Im Endeffekt war es vorteilhafter bei einer Sekretärin hysterisch zu werden, deren Billigmöbel sich oft als schmerzhaft stabil erwiesen, und die als Frau wegen der hinterher fälligen Säuberungsarbeiten ohnedies besser geeignet war. Yeah. Geschah es dennoch, dass irgendwas in die Brüche ging: ein liegengelassener Regenschirm etwa oder ein Töpfchen Handcreme, kein Problem: Dina ersetzte es und der Boss unterschrieb hinterher stillschweigend die Rechnung - alles mit der Automatik altgedienter Schmierenkomödianten, denen nichts aus der Ruhe bringen können. Der Ärger über die eigene Ungeschicklichkeit war ebenso spontan und ehrlich wie das Zähneknirschen beim Bezahlen hinterher, und doch suchte Alex mit unterbewusster Heimtücke nach etwas zum Kaputtmachen...

Energisch befreite Dina die Turner aus deren Bauchlage und schaute sich um. Sie verzog den Mund, als ihr Blick auf das alte Schlüsselbord fiel, das neben der Tür zum Flur hing: ein hässliches Brett mit zehn mal zehn zum Teil rostiger Nägel: die oberen für die Wagen-, die unteren für die Türschlüssel der Spedition. Der Boss hatte das klobige Stück Holz zusammen mit seinem ersten Wagen, einem echten Bull Trucker, erstanden, und hütete beide Oldtimer wie Meisterwerke von Uecker und Colani. Dinas Belustigung galt dem Umstand, dass Alex das Bord nicht einmal streifte, egal wie rasend er war - auch der Spiegel über dem Waschbecken blieb verschont. Dabei hingen beide einladend lose an jeweils einer einzigen Schraube...

Dina hatte kaum Zeit, sich das amüsierte Lächeln vom Gesicht zu wischen, der Chef konnte auch leise sein wenn er wollte. Er verlor kein Wort über ihre Säuberungsaktion, sah sich nicht einmal um, schien sich aber beruhigt zu haben.

"Und?" erkundigte er sich fast gähnend. "Was haben wir uns dabei gedacht, als wir dieses rothaarige Weib einstellten, häh?" An eine Antwort interessiert, verkniff er sich die Zusatzfrage, ob sie des Denkens überhaupt fähig sei, und wartete.

Sie schlug die Augen nieder. "'Das Beste vom Besten'" zitierte sie mit tiefer Stimme. Normalen Tones setzte sie hinzu: "So lautet unser Firmenmotto, so pflegen Sie immer zu sagen..." Sie zögerte kaum merklich. "Also habe ich halt das Beste vom Besten genommen. Punktum."

Alex verzog angeekelt das Gesicht. Allerdings, so pflegte er zu sagen...

"Außerdem", beeilte sich Dina hinzuzufügen, "ließen Sie mir ausdrücklich freie Hand, hatten Wichtigeres zu tun."

Auch wieder wahr. Alles, was seine unbezahlbare Sekretärin je sagte oder tat, hatte Hand und Fuß, ach was: Finger und Zehe! Immer. Die Empfehlungsschreiben und Papiere des "rothaarigen Weibes" waren überwältigend, die Frau musste von klein auf anstatt Muttermilch Diesel zu nuckeln gekriegt haben. Nicht nur hatte "man" eine Fahrpraxis von mehr als fünfzehn Jahren ohne einen einzigen Punkt in Flensburg vorzuweisen, nein, auch mehrere Preise im Geschicklichkeitsfahren. Beachtlich. Unter allen Bewerbern hatte seine rechte Hand souverän "das Beste" herausgepickt, aber ja. Und die Auswahl war groß gewesen. Zwar waren Fahrer, die halbwegs jung und erfahren waren, Mangelware, doch galt dieses Naturgesetz nicht für Saltener Betriebe mit guter Bezahlung, sozialer Absicherung, Fairplay und Bonusse noch und noch, wie das bekanntlich bei der Spedition Münch der Fall war. Sie hatten nicht einmal eine Annonce aufgeben brauchen, so was sprach sich herum... Nun, jedenfalls schien die Liste aller Auszeichnungen und Fähigkeiten dieser Person so lang wie deren zurückgelegte Kilometerzahl, wenn nicht länger, und Dina, die Gewissenhafte, hätte glatt die Daten der einzelnen Milchzähne mit heruntergeleiert...

"Nehmen Sie halt das Beste vom Besten wie üblich, und verschonen Sie mich mit dem Kleinkram", hatte Alex daher unwirsch angeordnet und sich Wichtigerem zugewandt...

"Und warum", bohrte er weiter, "haben Sie die Kleinigkeit unterschlagen, dass dieser Geschicklichkeitsfahrer eine Frau ist, hat sie's beim Vorstellungsgespräch nicht erwähnt?" höhnte er in Anspielung auf die nicht eben flachen Formen der Neue.

"Aber Chef!" quiekte die Holde mit Güh-Güh-Gäh-Gäh-Augen. "Sie wollen damit doch nicht andeuten, der zweitbeste Fahrer wär Ihnen lieber als die allerbeste Fahrerin?"

Alex schwieg verstimmt. Exakt das war es, was er nicht nur hatte andeuten wollen, doch in der heutigen emanzipierten Zeit als Unternehmer sagte man sowas besser nicht. Immer häufiger hatte er es mit Frauen in leitender Position zu tun. Kaum hatte man sich an den Anblick vom weiblichen Managers des hiesigen Fußballverein gewöhnt, musste man sich vom Tiefschlag erholen, einen Kredit abgelehnt zu bekommen - ausgerechnet von einer Frau. Über Nacht schossen sie aus dem Nichts wie Pilze im unschuldigen Walde. Was sollte er tun, die Pilze anderen überlassen? Davon wurde er auch nicht satt.

Ein besonders giftige Exemplar stand vor ihm, treuherzig lächelnd. "Außerdem haben Sie nicht gefragt", setzte sie hinzu. Er gab Zischtöne von sich, was sie locker als Zustimmung deutete. "Sehen Sie!" flötete sie. "Nun mal ehrlich: Sie waren bei Ihrem Bruder, sind wieder mal abgeblitzt und daher ein wenig gereizt, stimmt's?" Dina wusste, diese Runde hatte sie gewonnen, gönnte ihrem Chef aber einen ehrenvollen Abgang. Zwei Augenpaare, eines hellblau und ohne Falsch, das andere dunkelblau und misstrauisch, beäugten sich wie die Uhus, nahmen Maß.

Nach einer Weile wandte Alex den Blick ab. "Na ja", gestand er resigniert, "der alte Esel nimmt einfach keine Vernunft an..." Besagter Esel war keine zwei Jahre älter als der Spediteur, zwei Jährchen, die der Jüngere seit einer Jahrzehnt nach Belieben zu strecken pflegte. Okay, er war auch kein Teenager mehr, aber frischer als dieser Greis mit den Elektrohaaren allemal - und überhaupt: Brüderschaft, wo gab's das noch, ein längst verschüttetes Wort aus Karl May...

Vom Vater von klein auf zur 'gesunden' Konkurrenz angespornt, brauchte der erwachsene Alex das ständige Messen der Kräfte, während es dem Älteren egal war. Der Tod des alten Münch hatte an dieser Kommunikationsart nichts zu ändern vermocht, im Gegenteil alles noch verschlimmert, denn ohne Zustimmung des Bruders durfte keiner sein Erbe veräußern. Keine schöne Sache, wenn es sich um zwei Hälften desselben Hauses handelte. Anfangs hatte der Ältere sein "vergiss es!" jahrelang sechshundert Kilometer per Post vorbeigeschickt, später sorgten seine Kollegen an der Universität dafür, dass der Gelehrte diesen papiernen Schein der Gleichgültigkeit gegen die härteren Münzen der Anteilnahme eintauschen musste.

Selbst Schuld. Als Lehrer, gar Professor hatte man nach gewissen Grundsätzen zu lehren, wenn schon nicht daran geglaubt werden konnte. Nur Studenten, Wahnsinnige und Politiker konnten sich ein Stänkern gegen Vater Staat leisten; abtrünnige Pädagogen auf vom Elternhaus noch warme und biegsame, künftige Steuerzahler loszulassen, war sträflich - eine Art Selbstmord auf Raten. Nun, man hatte es im Guten versucht, mit Vernunft, mit versteckten, dann offenen Drohungen. Zuletzt war der Lehrkörperschaft nichts übrig geblieben, als den Widerspenstigen um seine Entfernung zu bitten, wobei 'bitten' nicht das exakt richtige Verbum war. Aber er ging, das war die Hauptsache. Warum sollte er nicht? Er hatte seine Ersparnisse, seine Haushälfte, das verzinste Startkapital des Vaters sowie die ebenfalls angewachsene Erbschaft der Mutter, diverse interessante Hobbys und mit einem Male soviel Zeit wie man sich nur wünschen kann, sich all diesen schönen Dingen zu widmen. Dazu eine Pension, die sich sehen lassen konnte, vor allem wenn man bedachte, wie wenig er dafür tat, getan hatte. Glück, was willst du mehr?

Der kleine Bruder hatte andere Vorstellungen vom Glück, hatte mit dem Geld der Mutter seine ersten zwei halben Lastwagen gekauft, mit dem Geld des Vaters nochmal zwei halben und dann noch eine halbe und noch eine und noch eine - tja, irgendwann reichte seine Haus- und Grundstückhälfte nicht mehr, die überdies im feinsten Wohngebiet lag. In dieser kritischen Phase, just als es dem Jüngeren juristisch/nachbarschaftlich an den Kragen ging, kreuzte der große Bruder auf, und was tat der?

Nichts.

Der Bursche erwies sich als genauso borniert und rückständig wie die lieben Nachbarn - und sowas hatte man als Radikaler von der Uni gejagt? Ha, der Kerl besaß nicht einmal ein Auto, man stelle sich vor...

Zu guter Letzt hatte er, Alex, umziehen müssen, vielmehr: seine Wagen waren umgezogen und er selbst zuckelte nach einiger Zeit brav hinterher. Es war dem Unternehmer gelungen, im Industriegebiet eine ausgediente Lagerhalle, einige Garagen und viel Gelände zu ergattern - spottbillig! Recht nobel eigentlich, einem unkooperativen Verwandten nach viel Ungemach das Feld zu überlassen - und was hatte er dafür verlangt: etwa Geld oder gar Dank? N-nein. Eine klitzekleine Unterschrift, mehr nicht. Einen Tintenklacks, den er benötigte, um seine verflixte Haushälfte zu verkaufen, eine Haushälfte, mit der er nichts anzufangen wusste und nichts als Schwierigkeiten gehabt hatte und deren Veräußerung ihm Luft verschafft hätte, da er sich finanziell etwas - nicht der Rede wert! - verkalkuliert hatte. Naja, und da war noch dieser kraftvolle Mercedes-Benz, den er unbedingt haben musste, weil - nun, egal warum, jedenfalls war der Wagen tipptopp und günstig zu haben, aber wie lange noch?! So ein kleiner Namenszug war unter Brüdern nicht viel verlangt, oder? Offenbar doch. Der ach so humane Professor zog es vor, eine große Wohnung, ein ganzes Haus leerstehen zu lassen, während Tausende und Abertausende von Obdachlosen verzweifelt auf der Kuhweide zelteten. So einer was das, aha...

Zähneknirschend erzählte Alex vom Blitzbesuch beim Bruder am Abend zuvor. Es war ihm gelungen, dem alten einsamen Gelehrten die idealen Nachbarn zu verschaffen: ruhig, kinder- und haustierlos und arbeitsam. Sie hatten keinerlei Nachwuchsabsichten, waren umweltfreundlich (alle drei Autos, das Motorrad und der Roller waren mit Katalysator versehen), handwerklich begabt, ordnungsliebend und notfalls willens, Wäsche und Einkäufe des gewiss ungelenken und zerstreuten Professors zu besorgen. Mit Engelszungen hatte Alex auf den Dickkopf eingeredet, genug Überzeugungskraft in seine Worte gepackt, um die Titanic erneut zu versenken. Umsonst. Adieu, schöne Träume, lebwohl, oh prachtvoller Mercedes-Benz, möge dein künftiger Besitzer an deinen Abgasen ersticken!!...

Nein, diese Unterredung hatte mit der üblichen Türknallerei geendet. Der geplagte Mann stöhnte: Warum er, warum immer nur er?!

Seine Sekretärin murmelte mitfühlende Vokale oder schüttelte den Kopf, je nachdem. Kaum hatte er sich ausgejammert, wieselte sie zu einem häßlichen Schrank, schloss auf und holte eine Thermoskanne und einen dicken Becher hervor. Beim Einschenken sah sie kurz hoch:

"Vermieten Sie Ihre Haushälfte doch einfach. Dazu brauchen Sie keine Unterschrift, oder?"

Alex war zu niedergeschlagen, um sich wie üblich über die Dummheit der Weiber im allgemeinen und seiner Sekretärin im besondere zu mokieren und hob eine Schulter.

"Das bisschen Miete, was soll ich damit: Scheibenwischer kaufen? Wie Sie wissen oder wissen sollten, brauche ich eine größere Summe, um die Firma zu expandieren und einige Schulden zu tilgen. Dringend."

Dina nickte verständnisvoll, taktvoll übergehend, dass der Boss seit Jahren den Erlös des Hauses benötigte. Dringend.

"Und um den Hausmeister zu spielen", fuhr Alex wegwerfend fort, "fehlt es mir an Kleinkariertheit - Klotzen muss man, wenn man etwas erreichen will, mein Kind."

"War nur ein Gedanke...", nickte das Kind. "Ich dachte, nun, wenn Ihr Bruder mit den neuen Nachbarn nicht klar käme und dann um jeden Preis loswerden möchte..." Sie wandte sich mit einem Achselzucken ab und fing an, den inzwischen leeren Becher und die Kanne abzuspülen. Als ordentlicher Mensch schätzte sie es nicht, Dinge herumliegen zu lassen, und wenn es für eine Nacht wäre. Über die Schulter hinweg erkundigte sie sich im Geschäftston: "Was ist mit dem eben eingegangenen Frachtbrief? Soll ich ihn noch schnell fertig machen? Ist nämlich gleich Zapfenstreich."

Keine Antwort.

Sie drehte sich um. Alex schien gedanklich weit weg, murmelte halblaut vor sich hin und kratzte sich am Ohrläppchen, während seine Sekretärin mechanisch alles in den Schrank räumte und abschloß: man konnte nie wissen.

"Wie wäre es mit Petra und Martin?" störte er sie bei ihren bald-ist-Feierabend Vorbereitungen.

"Wie bitte?" machte die Tüchtige ein törichtes Gesicht.

"Nun, als Mieter natürlich", erinnerte er sie ungeduldig.

Sie spitzte den Mund, während sie die Schreibtischplatte abwischte und zur Waschecke schritt, um den Lappen auszuspülen und an den Haken neben dem Spiegel aufzuhängen.

Alex verfolgte jede Bewegung, wagte aber nicht sie zu drängen.

"Ordinär genug wären sie", lautete endlich ihr Urteil, "aber zu nett. Ihr Bruder ist netten Leuten gegenüber wehrlos."

"Stimmt. Sie sind mit uns verwandt, ich vergaß."

"Nur ganz entfernt!" protestierte sie. "Angeheiratet sozusagen."

Ihr Chef war von der Möglichkeit, doch noch zu seinem Geld zu kommen und obendrein dem Sturkopp eins auszuwischen zu gefesselt, um das wenig Schmeichelhafte ihrer Verwandtschaftsverleugnung zu bemerken. "Machen Sie doch einen Vorschlag, Sie Schlaumeier!" forderte er gereizt. "Etwas Anständiges müssen Sie doch leisten, Ihr fürstliches Gehalt zu verdienen."

Sie brachte ein papierdünnes Lächeln zustande. "Eine bloße Angestellte ist für derlei Denktätigkeiten zu kleinkariert. Im übrigen bin ich seit" - sie warf einen Blick auf die Uhr - "sechseinhalb Minuten Privatperson. Guten Abend, Herr Münch."

"Hab dich nicht so", duzte er sie unwillkürlich wie in vergangenen Tagen, als sie noch nicht bei ihm angestellt war. Lässig schob er sich zwischen Dina und der Tür, ein gewinnendes Lächeln auf den Lippen.

Die Sekretärin verzog das Gesicht. "Schön, überlegen wir also: Was kann der Prof nicht ab, welche Abneigungen und Aversionen hat er...", murmelte sie. "Er mag keine Frauen..."

"Nicht?!" plärrte Alex, Entsetzen im Gesicht. "Mir neu..."

"Soll ich mein fürstliches Gehalt nun heute verdienen oder erst Ostern?" rügte sie.

"Oh. Bitte bitte. Fahren Sie fort."

Sie schloss die Augen, wie um seinen Bruder vor ihrem inneren Auge zu sehen. "Also - er mag keine Frauen... keinen Lärm...“, zählte sie auf. "Außerdem mag er keine Autos und hasst es, bei der Arbeit gestört zu werden... Hm, wie wäre es mit..." Sie brach ab, die Augen aufreißend. "Oh je, wenn ich die vorschlage, reißen Sie mir den Kopf ab!"

"Nun, sagen Sie schon!"

Statt einer Antwort bewegte sie sich resolut zur Tür, war aber nicht schnell genug - wie eins seiner Brummis hatte Alex sie überholt und stand vor ihr, die Arme ausgebreitet.

"Pfft", machte Dina, und begab sich gottergeben zu ihrem altmodischen Drehstuhl. "Sagen Sie nicht, ich hätte Sie nicht gewarnt! Ich kenne jemanden, der in Frage käme: Eine weibliche Person, sehr temperamentvoll, hat ein Kind im schlimmsten Flegelalter, eine geschwätzige Schwiegermutter, ein uraltes Auto und zwei Hunde, groß wie Shetlandponys..."

"Wer?!!"

"Das rothaarige Weib", bekannte sie zaghaft. "Antonia Schikorra, neueste Erwerbung der Spedition Münch, Geschicklichkeitsfahrer und..."

"Gottchen", hauchte er, sich nach einer Sitzgelegenheit umschauend.

Bereitwillig machte sie ihm Platz. "Sie fährt für ihr Leben gern, und ihre Hunde bellen, unter anderem..." Sie hielt inne, um dann bedeutungsschwer hinzuzufügen: "Wauwau, woefwoef! Buddel, buddel, scharr, scharr...!"

Alex hob reflexartig einen Zeigefinger, der auf halbem Weg zur Stirn innehielt, während ein Aha-Leuchten über seine Gesichtszüge ging: Natürlich! warum war er nicht selbst darauf gekommen? Dieser vertrottelte Naturmensch war ja total närrisch mit seinem Grünzeug, ließ alles kreuz und quer wuchern und sagte "Garten" dazu. Als Alex noch in seiner Haushälfte gewohnt hatte, war er mehr als einmal Zeuge von Freudentänzen gewesen, die der alte Narr beim Aufblühen gewisser exotischen Pflanzen hingelegt hatte. Nun, bereits als Kind hatte der Kauz seltsame Dinge angestellt...

"Setzen Sie sofort einen Mietvertrag auf!" jodelte der Geschäftsmann beinahe und legte die Strecke zur Tür mit einigen Schritte zurück, die er vor Jahren Patrick Swayze abgeguckt hatte. "Aber wenn etwas kaputt gehen sollte - ich will nichts davon hören, verstanden? Verstopfte Abflussrohre, leckes Dach - sie soll es gefälligst selber flicken, klar? Schreib das klar und deutlich mit rein!"

"Gleich", meinte Dina gelassen. "Sobald ich den Frachtbrief..."

"Zum Teufel mit dem ollen Frachtbrief!" dröhnte er gutgelaunt. "Sehen Sie zu, dass das famose Weib gestern noch unterschreibt und mitsamt Anhang einzieht. Mit großzügigen Kündigungsmöglichkeiten meinerseits, versteht sich - Sie wissen schon." Den Türgriff bereits in der Hand, drehte er sich noch einmal um und wiederholte ausdrucksvoll: "Heute noch!"

Dina zählte langsam bis zehn, bevor sie sich ans Fenster begab, auf die hohe Gestalt des Chefs wartend. Ihre Lippen kräuselten sich, als er im weißen Cabriolet verschwand, der wie immer direkt vor dem Eingang stand. Mit einer Jennifer-Grey-Parodie tänzelte sie zu ihrem Schreibtisch zurück, wartete aber noch etwas. Erst als sie den Motor hell aufheulend durchs Tor rasen hörte, hob sie den Hörer und wählte ihre eigene Nummer.

"Toni? Es hat geklappt, gleich komme ich mit dem Mietvertrag, ja? Stell schon mal eine Flasche Sekt kalt..."




II. beauty and the beast


Dreiundzwanzig lange Minuten hing die Truckerin wie angeseilt hinter einem knallroten Volkswagen mit verbeulten Kotflügeln und Baby-an-Bord-Schild: noch so'n Würstchen, das die Straßen zum Abbau von Minderwertigkeitskomplexen benötigt, ätzend. Vor sich keine Sau, hinter sich weit und breit kein Schwein, doch sie war wegen einer bürokratischen Kleinigkeit namens Überholverbot dazu verdammt, die Abgase einer unkatalysierten Blechschachtel zu inhalieren. Eisern ließ sie den Finger von der Hupe, den Gefallen würde sie dem Würstchen nicht tun, oh nein. Der Überholverbot galt nur Lastwagen, dabei waren einige technisch besser ausgestattet und auf jeden Fall mit fähigeren Fahrern bestückt als - verdammt, nun blinkte der Frechdachs gar, Schluss mit lustig! Das Lenkrad nach links reißend, beschleunigte Toni, um kurz darauf abzubremsen, denn der Lümmel hatte ebenfalls einen Zahn zugelegt und zog nun voller Triumph aufheulend davon, als habe er jahrelang just for this moment trainiert: David schlägt Goliath, üüüäääh!

Vor sich hin schimpfend und doch kichernd lenkte die Rothaarige den Wagen auf die rechte Spur zurück und drehte das Radio lauter, normalerweise ein unfehlbares Mittel gegen aufkommende schlechte Laune.

"...fünf Jahre Umweltpolitik haben nicht etwa wie versprochen weniger Stickoxide gebracht", verkündete eine männliche Stimme gewichtig.

Toni stöhnte: solche Töne bekam sie daheim genug zu hören, wie wäre es mit Musik, Kumpel?

"...statt dessen hat man ganze 7 % mehr nachgemessen. Aa-bär sicherlich ist das Ergebnis sogar positiv zu bewerten", fuhr der Kumpel ungerührt fort, eine Kunstpause einflechtend, als zitiere er Hamlet. "Gewiss werden die Herren Politiker nun fromm einwenden, ohne ihren Einsatz wäre es mindestens um die Hälfte mehr geworden, wären ganze Gebiete unter einer Smogglocke verschwunden wie in gewissen Nachbarländern, wo ... - Kwiiit", fiel das Radio sich selbst ins Wort. "Wir unterbrechen unser Programm mit einer aktuellen Verkehrsmeldung: Auf der Autobahn E45 Richtung Hamburg hat es einen schweren Unfall gegeben, inzwischen gibt es einen Stau von circa zwei Kilometer Länge. Autofahrer, die in..."

Nein! schimpfte Toni erneut los, wenn auch lautlos, um die Empfehlungen nicht zu verpassen. Für sie bedeutete dies ein Umweg von dreiviertel Stunde. Mindestens.

Die Rothaarige bog in die nächste Ausfahrt; das Radio hatte sie leiser gedreht, um nicht schon wieder die Nachrichten hören zu müssen.

Es war kurz nach Mitternacht. Geisterstunde. Was hat es für einen Sinn, sann sie träge vor sich hin, ein Gähnen unterdrückend, so gegen die Uhr zu fahren? Es ist so spät, kein Hahn kräht danach, ob Fernfahrer Schikorra in Andorra zeltet oder zu Hause schläft... Nun? Der Sinn liegt darin, liebe Antonia, säuselte eine bekannte helle Stimme in ihrem Hinterkopf, dass du es dir erstens vorgenommen hast und zweitens am liebsten im eigenen Bette aufwachst. Abgesehen davon, dass Pünktlichkeit und Ausgeschlafensein für einen Trucker, mischte sich ein Baß ein, einen echten Trucker, so unvereinbar sind wie... Toni schmiss die elterlichen Stimmen über Bord, um sich besser konzentrieren zu können: wie Marzipan und Ketchup. Bäääh! streckte sie ihrem dunklen Spiegelbild in der Frontscheibe vor sich eine vor Kaffee nahezu schwarze Zunge heraus. Das können wir besser, Mädel! Ihre etwas zu kleine Nase krümmte sich nach unten beim Einsaugen ihrer Oberlippe: wie Fantomas und Peter Alexander, wie...

Als sie nicht länger widerstehen konnte und zur Uhr schielte, griente sie. Fast zweiundvierzig Minuten hatte sie mit dem sinnlosen Ausdenken absurder Vergleiche herumgekriegt, ein neuer Rekord. Müßig erwog sie die Möglichkeit einer Teilnahme an den Olympischen Spielen, kicherte und schalt sich gleichzeitig albern, während der Lastwagen in elegantem Bogen in die heimische Einfahrt rauschte.

"Spedition MÜNCH", las sie immer noch freudig und dankbar, darunter kleiner: "Schonen Sie Ihr Eigentum, Ihre Nerven und die Umwelt - fahren Sie MÜNCH!" - diesmal quittegelb auf grünem Hintergrund. Wenn der Chef seinen Namen nicht an jede Mauer, jedes Bäumchen malen dürfte, bit-te, aber keiner konnte ihn daran hindern, die erlaubten Schilder in immer neuen Farben leuchten zu lassen, damit sich ja niemand daran gewöhnen konnte. Sie parkte, schloss ab, warf den braunen Umschlag mit Unterlagen und Wagenschlüssel in den größeren Briefkasten und strebte mit langen Schritten auf ihr eigenes Auto zu. Auto? Eher Kinderwagen. Keines dieser flotten Dinger mit Fell, elektronischem Schiebedach und und und, nein, ein Autochen, in dem jeder halbwegs normal gebaute Mensch, der mitwollte, sich die Beine quasi hinter die Ohren klemmen musste, um dem Fahrer das Lenken nicht unmöglich zu machen. Toni hatte das Dingelchen vor sechzehn Jahren gekauft und hing daran, wie sie mit der Zeit an allem hing was irgendwelche Macken hatte; reibungslos funktionierende Sachen, Tiere oder Menschen langweilten sie. Wie winzig, wie spielzeughaft klein ihr Wagen sich nach dem dicken Brummi ausmachte. Wie eine Nadel neben der Freiheitsstatue, wie... Manno! stöhnte sie in komischer Verzweiflung. Das Blöde war, die albernen Spielereien verfolgten sie nach einer längeren Tour regelrecht - mitunter bis in den Schlaf. Nichts Schlimmes eigentlich, nur - lästig. Zumal es sich als immer kniffliger erwies, neue Begriffe zu finden, je länger man dabei war: wie... wie...

Den Heimweg schaffte sie in vier einigermaßen brauchbaren Vergleichen, beim fünften sank sie auf ihr Bett und war augenblicklich eingeschlafen. Ein guter Fahrer, so ein Sprüchlein ihres Vaters, kann zu jeder Zeit, in jeder Lage und überall einschlafen. Sofort.

...in hotpants schlittenfahren macht spaß - antonia, ziehe auf der Stelle etwas vernünftiges an, doch eine lange schlange rotblauer käfer versperrte ihr den weg, und die hunde bellten wie verrückt - ruhe, tom, kusch, jerry…

Sie gähnte, schlaftrunken die Treppe runterschlurfend, und öffnete die Hintertür. Erst als Tom, der sich für Herumtollerei und andere Albernheiten zu gereift dünkte und entsprechend lange Krallen hatte, ihr auf den nackten Fuß trat, ging Toni auf, dass nicht nur ihr Traum sie, sondern sie irgendwie auch ihr Bett verlassen hatte. Ein nachträgliches "Autsch!" von sich gebend, riss sie die Augen auf und ließ einige weniger harmlose Vokale folgen. Prompt raunzte ihr Hinterkopf sie an: Eine schlechte Angewohnheit ist das Fluchen, Antonia, das musst du von deinem Vater haben… Toni ignorierte die Stimme und schritt hinaus in die Kälte.

Dieser Nachbar! Kein Wunder, dass die Hunde sich so aufspielten, bei dem Lärm. Hörte sich an wie... wie zwei amerikanische Footballteams beim Aufwärmen in einem Restaurant. Oder wie... wie...

Energisch schaltete sie ihre Spinnereien aus und dafür einen schnelleren Gang ein, quer durch den Garten zur anderen Haushälfte sprintend. Auf ihr Klingeln wurde es schlagartig ruhig, und dann - nichts. Ja, glaubte dieser seltsame Patron etwa, sie würde nun brav heimwärts dackeln, als wäre nichts gewesen? Nicht mit mir, mein Süßer! Spontan drückte sie den Türgriff herunter und erschrak nicht wenig, als die Tür nachgab: auweia, Hausfriedensbruch! Einen Moment auf der Schwelle verharrend, lauschte sie: nichts! - bevor sie kühn eintrat.

Es war stockfinster, der Lichtschalter befand sich jedoch wie in ihrer Haushälfte links direkt neben der Haustür. Nachdem sich ihre Augen angepasst hatten, musste sie nicht nur wegen der Beleuchtung zwinkern: bei ihr war auch nicht immer alles picobello, aber dies...

Kein Sessel, nicht ein Buch oder Blatt schien an seinem Platz, alles hing, lag, stand verkehrt herum wie von der dritten Etage heruntergeworfen, wie... wie Mikadostäbchen... wie... - Hör auf mit dem Unfug! Antonia, mäßige dich! Achtung, Mädel! riefen die Hinterkopfstimmen misstönend durcheinander, jählings verstummend, als Tonis Blick auf ein halbbekleidetes - oder heißt es halbnacktes? - Wesen fiel, das auf allen Vieren zwischen den verstreuten Gegenständen umherkroch. Toni gluckste. Der Krabbler musste sie gehört haben, ließ sich aber nicht stören. Offenbar ein Hippie, das Haar schien das gesamte Gesicht zu bedecken, sich hierhin und dorthin sträubend wie eine Wiese, wie ein Unkrautfeld nach einem Platzregen, wie... Unversehens drehte das Unkrautfeld sich um, Tonis naturkundliche Betrachtungen abwürgend, denn über einer der buschigen Brauen leuchtete eine tiefrote, leicht tropfende Sichel.

"Was machen Sie da?" entfuhr es ihr.

"Ich wohne hier", kam es trocken. "Und Sie?"

Sie ließ sich nicht provozieren, zählte bis zwei und schnappte: "Ihre verruchte Party besichtigen. Hatte nichts Besseres zu tun und dachte: kiek mol rin auf'n Bierchen."

"Aha", kommentierte er höflich. "Und das ist Ihr üblicher Party-Outfit?"

Toni sah an sich herunter. Sie trug das lange und sehr bunte Oberteil eines japanischen Pyjamas - sonst nichts. Dann hob sie den Blick und schluckte. Sacht, ganz sachte stahl sich ein Lächeln in ihre Augen, um den Mund, breitete sich nach außen aus und hatte bald das ganze Gesicht erfasst.

Unwillkürlich entspannte ihr Nachbar sich und spitzte die Lippen.

"Wo ist Ihr Badezimmer?" wollte sie übergangslos wissen.

"Zweite Tür, links", gab er bereitwillig Auskunft.

Als Toni zurückkehrte, hatte er seine Herumkriecherei wieder aufgenommen. "Was, zum Teufel, suchen Sie da?" formulierte sie ihre Eingangsfrage neu.

Er starrte hoch, überwältigt von ihrem Anblick: breitbeinig stand sie da, eine Hand in die Hüfte gestemmt, in der anderen seinen Verbandskasten. Mit der freien Hand hievte sie einen Sessel auf die Beine, dazu eine einladende Geste machend, als sei sie hier zu Hause:

"Setzen Sie sich."

"Ich kann ohne Brille nichts sehen", wandte er wenig sinnreich ein, nahm aber angesichts ihrer unerbittlichen Haltung Platz.

Ein guter Trucker kann selbst im Schlaf Erste Hilfe leisten, sofern er etwas taugt, hatte Tonis Vater stets versichert. Nun, sah die Truckerin selbstironisch an sich herunter, zwar schlief sie nicht direkt, aber die Backgroundmusik stimmte.

"Tz tz", machte sie, als ihr Nachbar unter ihren Händen aufstöhnte. "Ein Indianer kennt keinen Schmerz."

"Meine Eltern waren so ziemlich deutsch" murmelte der Gescholtene kaum hörbar. "Nur Heino kann das toppen."

"Widerrede auch noch", wunderte sie sich. "Mit Ihnen hat man nichts als Ärger."

"Wer ungeladen auf fremden Partys erscheint hat seine Bürgerrechte verwirkt und darf sich nicht mal wundern", konterte er ungerührt. "Wer sind Sie überhaupt?"

Toni klebte dem Frechdachs ein enormes Pflaster übers Auge. "Ihre neue Nachbarin." Sie schleuderte ihm einen grünen Laserblick zu und räusperte sich. "Sie wissen schon: das rothaarige Weib mit Pubertätskind und zwei Ponys."

"Sorry, ich kann ohne Brille wenig erkennen", übertrieb er, um sie wegen ihrer mangelhaften Bekleidung nicht in Verlegenheit bringen, "und sah nur ein östlich geprägtes Pyjamaoberteil mit rotem Mop oben und unten zwei..." Er stockte, wie eine misstrauische Eule zu ihr hinäugend: "Sagten Sie eben Ponys?"

"Und wenn?" hielt sie dagegen und fing ohne Antwort abzuwarten an, den Zimmerinhalt zu sortieren. Ein derartiges Durcheinander hatte sie lange nicht mehr erlebt, seit... hm, richtig, seit dem Sturm vor über fünfundzwanzig Jahren in der Nähe von Sydney, als ganze Bäume und Häuser vorbeigeflogen waren wie eben-auf'm-Kaffee. In dem Jahr hatte ihr Vater sie zum ersten Mal richtig ans Steuer seines alten Trucks gelassen - sein Teil des Paktes; Tonis Teil hatte darin bestanden, das Internat über sich ergehen zu lassen, während Tonis Mutter zu den sommerlichen Eskapaden von Vater und Tochter zu schweigen hatte...

"Sitzengeblieben!" brüllte sie kernig, so oft er Anstalten machte sich zu erheben. Erst als alle Möbel richtig herum standen, fand sie seine Brille. Ein Triumphgeheul ausstoßend, stürzte sie zu dem zurückweichenden Mann, ihm behutsam das Gestell auf die Nase setzend. Die linke Seite war ohne Glas, die rechte hatte einen doppelten Sprung, doch er strahlte wie über den Nobelpreis. "Großartig, fühle mich wie neugeboren. Wenn Sie wüssten, wie ein Halbblinder sich ohne Brille fühlt, wie ein Fisch ohne Wasser... wie..."

"Fangen Sie nicht auch mit dem Blödsinn an!" schnauzte seine bis dahin verträgliche Nachbarin.

Denn nicht! gekränkt tat er, als würde es die launische, durch seine Brille verdreifachte Person nicht geben, die mit lockerer Hand seine Bücher einräumte: Schiller neben Darwin, Marx auf Volkslieder aus Litauen...

"Ich hoffe", hatte sie ihren Ausfall offenbar schon vergessen, "die Wüteriche haben wenigstens umsonst gesucht, oder heißt es vergeblich?"

Verständnislos schielte er zu den drei rothaarigen Frauen hin, die mit einer umfassenden Geste auf die wiederhergestellte Ordnung deuteten und ebenso synchron das Zimmer verließen, um mit drei Staubsaugern bewaffnet erneut in Aktion zu treten - in wenigen Minuten das schaffend, wozu er einige Stunden gebraucht hätte.

"Sitzengeblieben!" schmetterte sie, sobald er sich rührte. Das schien ihr soviel Spaß zu machen, dass er ihr zu Gefallen öfters tat, als würde er - jetzt aber! - doch noch aufstehen. Endlich zufrieden, räumte sie das Putzzeug fort und erkundigte sich nach dem Standort seines Bettes.

Seine Nasenflügel bebten. "Sie!" hielt er ihr einen moralischen Finger entgegen. "Nach so kurzer Bekanntschaft..."

Sie spielte mit, wundervoll indignierte Augen zur Zimmerdecke rollend, auf dass diese sich auftue, den Schmutzfink zu verschlingen. Doch dann wurde sie energisch und half ihm in sein Bett, angenehme Träume wünschend.

"Nein", murmelte er halb im Schlaf, eine verspätete Reaktion auf das Überstandene. Und, als ihr Gesicht sich zu einem Fragezeichen verzog: "Die Wüteriche haben nicht gefunden, was sie suchten." Er räusperte sich und setzte fast schüchtern hinzu: "Danke."

"Das ist fein", war ihre Entgegnung, bevor sie endgültig aus seinem Blickfeld verschwand.

Geraume Zeit lag er nur da und genoss seine warme, weiche Lage, träge überlegend, ob ihr letzter Satz der Erfolglosigkeit der Wüteriche oder seinem etwas aufgesetzten Dank gegolten hatte. Ihre Hilfe war so selbstverständlich und ohne Getue erfolgt, beinahe hatte er es vergessen, doch seine gute Kinderstube hatte den Sieg davongetragen - hatte sie ihn deswegen gelobt? Er gähnte. Und wenn schon, für solch psychologische Finessen gab es geeigneteren Zeitpunkte, oder? Eben...

Er schreckte hoch, als ihm einfiel, dass die Haustür nicht abgeschlossen war, eine Einladung an sämtliche Wüteriche. Er sollte aufstehen, aber ja, gleich. Ach was, noch mal kamen die gewiss nicht. Obwohl... man konnte nie... wissen... er... sollte... wirklich...


III. männer

Der nächste Tag brachte dröhnende Kopfschmerzen, ein lila-blau schillerndes Auge und im Mund einen Geschmack nach verbrannten Haaren. Dennoch wagte die Sonne es, komplett nackt durchs Fenster zu strahlen - das erste Mal seit Wochen, ausgerechnet, er hätte so schön im Garten herumsuhlen können, zum Speien! Hinzukam, dass seine Lebensmittelbestände selbst Mäuse abgeschreckt hätten: Marmelade, Marmelade, Marmelade. Seine Hände zitterten leicht beim Aufsetzen einer alten Schmetterlingsbrille, die seit seinem Einzug in einem Karton auf dem Boden gelagert hatte; und er spürte sich deutlich erbleichen beim Anblick des bröckelnden Putzes, wo sich Telefon und Wand für gewöhnlich die Hand gaben. Damit war es unumgänglich geworden, das lästige Einkaufen. Jessas. Ein Blick in den Spiegel überzeugte ihn, dass die Brille immerhin den Vorteil hatte, sein buntes Auge zu verdecken. Nicht dass er eitel wäre, aber wenn er exhibitionistische Ambitionen gehabt hätte, wäre er Stripper geworden. Pfft. Hinter dem misshandelten Auge dröhnten Buschtrommeln der Größe XXL, als er über einen riesigen Hund stolperte, der es vor seiner Haustür bequem gemacht hatte, beinahe wäre er hingefallen. Das Tier war offenbar nicht mehr taufrisch, ein riesiger Schäferhund mit stolzem und doch irgendwie gutmütigen Blick.

“Na, alter Knabe, was machst denn du hier? Solltest dein Riechorgan mal wieder putzen, bei mir ist nämlich nichts zu holen.”

Beim genaueren Hinsehen entdeckte er die Leine zwischen Halsband des Hundes und seinem Türgriff - erst dann sah er den Zettel.

“Werter Nachbar und Nachtschwärmer!” stand da in schmissiger Schrift. “Hab gewusst, Sie finden nicht wieder hoch, aber leider keinen Schlüssel sichten können. Binden Sie den Hund (er heißt Tom) los, sobald Ihre abartige Orgie zu Ende ist. Damit es keine Missverständnisse gibt, vor allem wegen Ihrer kaputten Brille: dieses Tier ist eines meiner Ponys, bitte nicht reiten. TS“

Gegen seinen Willen zuckten seine Lippen, und das Trommeln setzte wieder ein: phänomenal, sämtliche Gesichtsstränge schienen eine direkte Leitung zu dem tiefblauen Fleck in seinem Gehirn zu haben...

Obwohl der Hund jede seiner Bewegungen verfolgte als sei der Professor einem Irrenhaus entsprungen, band der ihn los, dem tierischen Bodyguard einen Abschiedsklaps gebend, bevor er die Tür schloss und sich auf den Weg machte, vorsichtig einen Fuß vor den anderen setzend. Als er sich am Zaun umdrehte, starrte das Tier immer noch verwundert hinter ihm her.

“Noch nie 'nen Intellektuellen gesehen?!” ließ er sich hinreißen.

Majestätisch hob der Vierbeiner den Kopf und wandte sich, der Intellektuelle hätte es schwören mögen: peinlich berührt ob soviel Lebensunart ab. Der Zweibeiner zog den Kopf ein, sich aus dem Zensurbereich Toms entfernend.

Das Tier erinnerte ihn irgendwie an Tantchen - ein Glück, dass die nicht mehr bei ihm wohnte, hätte leicht ins Auge gehen können. Solcherart an das eigene Sehorgan erinnert, spitzten sich seine Lippen wie von alleine, und er gab einen kläglichen Laut von sich: blöder Tag. Als die Überfälle angefangen hatten, war er wegen seiner Tante in Sorge gewesen, die alte Dame war zu temperamentvoll. Sein Rezept gegen verrückt gewordene Rowdys war simpel: Brille abnehmen und beten. Es half zwar nicht, verhinderte dafür seiner Meinung nach Schlimmeres. Und gerade eine solch vernunftbezogene Einstellung ging seiner Tante ab, ihre Devise lautete: lieber ganz tot als halb lebendig. Nun gut, die Menschen waren verschieden, das konnte er akzeptieren und tat es auch. Doch wenn eine alte Dame seinetwegen zu Schaden kam, ging ihm das sehr wohl etwas an. So. Also hatte er die liebe alte Dame aus seinem Haus vergrault, eine Vorgehensweise, die ihm ebensowenig lag wie Schlägereien, wenn nicht weniger. Sein Harmoniebedürfnis war sozusagen über dessen eigene Leiche gegangen...

Nun, ein Problem weniger. Tantchen war in ihr altes Haus in der Kaiserstraße gezogen, auch 'Museum' genannt, und hatte Alex überreden können, zu ihr zu ziehen, nachdem Dina abgewinkt hatte. Warum eigentlich? Immerhin war Dina die Tochter vom jüngsten

Bruder Tantchens, somit eine Blutsverwandte und - soweit er informiert war: die einzige obendrein. Mit Alex und ihm selbst verband die alte Frau nur eine indirekte Verwandtschaft, die niemand zu durchschauen vermochte. Sicher war nur, dass sein Vater sich lange im Hause Haussen, im Museum, aufgehalten hatte. Von dort hatte er sein Studium angefangen und auch beendet, woraufhin der alte Haussen, Tantchens Vater, dem Junganwalt eine Praxis eingerichtet hatte. Vielleicht hatte Tantchen die Tradition weiterführen wollen, indem sie den eingefleischten Junggesellen bei sich aufnahm? Nun, ihm sollte es gleich sein, er hoffte nur, Alex betrieb keine Erbschleicherei oder dergleichen. Er traute es dem Bruder zwar nicht zu, dazu liebte der seine Unabhängigkeit zu sehr, aber - zuviel Unternehmertum verdirbt bekanntlich den Charakter. Tja, wusste man es, am Ende hatte Tantchens Menschlichkeit einen läuternden Einfluss auf den Hallodri? Das war zuviel, vergeblich gab der Professor seinen Lachmuskeln den Befehl, entspannt zu bleiben - und stöhnte.

Als Junglehrer - Äonen her! - hatte er stundenlang vorm Spiegel geübt, um sich das Lächeln abzugewöhnen. Er fand sich grauenvoll jung und unreif mit den nicht zu bändigenden Haaren und dem großen Mund, und selbst wenn er nur ein ganz klein wenig lächelte, teilte sich sein Gesicht für gewöhnlich in zwei Hälften, ihn das spaßige Aussehen eines Kobolds verleihend. Katastrophal, wenn man vor einer Horde Halbwüchsigen bestehen musste – ein Mindestmaß an Respekt war lebensnotwendig. Anstatt also wie ein Vollidiot von einem Ohr zum anderen zu grinsen, schürzten, spitzten sich seine Lippen vor lauter Anstrengung es nicht zu tun, und er sah ungemein nachdenklich und intelligent und erwachsen aus. Dachte er. In jeder Hand eine prall gefüllte Tasche aus Baumwolle, machte der Professor sich schwitzend auf den Heimweg. Zerstreut wie er manchmal war, hatte er eines guten Tages versehentlich eine Plastiktüte erwischt, die ihm eine Verkäuferin in die Hand gedrückt hatte, und war damit spazieren gegangen. Die erstaunten bis erbosten Blicke, durch die er hatte Spießrutenlaufen müssen, hatten ihn gelehrt, dass man als Öko-Eigentum der Öffentlichkeit sich solche Schnitzer nicht leisten konnte...

Sein Magen erinnerte ihn mit gewohnter Heftigkeit daran, dass er ihn ewig nicht gefüttert hatte, und doch verlangsamten sich seine Schritte, als er an einem Blumenladen vorbeikam. Der leichte Spott seiner zupackenden Nachbarin bevor sie verschwand, als würde sie Punkte wegen guten Betragens verteilen, ging ihm nicht aus dem Kopf. Schlimmer: sie hatte Recht. Ehe der Gelehrte sich versah, hatte er das Geschäft betreten, selbst erstaunt über die eigene Courage...

Er hatte sich gegen neue Nachbarn gewehrt, fand es verantwortungslos von seinem Bruder, anderen ein Leben zuzumuten, vor dem er selbst geflohen war. Denn anfangs war Alex entschlossen gewesen, sich von niemand und nichts vertreiben zu lassen, weder von spießigen Nachbarn noch von einem rückständigen Bruder. Nun, nach dem ersten Überfall hatte er es sich anders überlegt. Die geschonte Version, wonach ein Spediteur zu seinen Wagen gehört, hatte dem Älteren ein Schnauben entlockt, lag doch Tantchens Museum genauso weit von Firma und Wagen entfernt wie das Haus am Saltener Platz – wenn nicht weiter. Ob Alex die neuen Nachbarn über die gelegentliche Überfälle aufgeklärt hatte? Unwahrscheinlich...

Erschrocken starrte er die Blondine in grünem Kittel an, die sich nach seinen Wünschen erkundigt hatte. Ja, welche Blumen sollte er nehmen? Er war in der verschwommenen Vorstellung hier eingetreten, nur mal mit dem Finger auf einen Strauß zeigen zu müssen, um dann unverrichteterdinge mit seiner Beute verschwinden zu können – warum ging das nicht? Rosen? Um Gotteswillen, war er auf Freiersfüßen, was dachte das Kind von ihm?

Gute Verkäufer zeichnen sich durch Geduld aus: wozu der Herr den Strauß benötige, silberne Hochzeit, Konfirmation der Enkelin? rasselte sie munter runter. Auch dies schien dem schwierigen Kunden nicht recht: sah er bereits derart klapprig und bieder aus?

„Für eine ältere Person?“ forschte sie beharrlich weiter, seine gekränkten Dackelaugen dank der Schmetterlingsbrille nichtbemerkend: Mann, Frau...?

Irritiert bestellte der Gelehrte schließlich den Wiesenstrauß, der auf einem Schild angepriesen wurde. Hörte sich gut an, oder? Und ob sie etwas Heu dazutun könne? setzte er impulsiv hinzu, stolz auf seinen Einfall. Heu...? sah ihn die Verkäuferin sonderbar von der Seite an. Was nun – war er wieder in irgendein Fettnäpfchen getreten, schickte sich Heu für einen Umweltprofessor ebensowenig wie Plastiktüten?! Gleichzeitig fiel ihm ein, dass er im eigenen Garten Unmengen von Blumen hatte, warum war ihm das nicht früher eingefallen? Wie um diesen Moment toller Frustgefühle perfekt zu machen, bemerkte der Professor eine grinsende Fregatte, deren breite Gestalt und speckig glänzendes Gesicht ihm bekannt vorkamen und nun wuchtig auf sie zudampfte. Woher...? Natürlich! klatschte er sich innerlich an die Stirn, nach einem Schlupfloch spähend, während sein Gedächtnis auf Touren kam. Die Dame war ihm als Inhaberin eines 'grünen' Blumenladen vorgestellt worden, und zwar auf... auf... auf einer Wohltätigkeitsveranstaltung vor, triumphierte er, vor haargenau zwei oder vier Jahren. Vielleicht auch sechs. Wie viele vergessliche Leute konnte er sich wie ein Kind freuen, wenn er glaubte sich auf etwas besinnen zu können: sooo schlecht war sein Gedächtnis nicht, also bitte! Die ungewohnte Geselligkeit hatte er Tantchen zu verdanken, die ihn einfach beim Kragen gepackt und mitgeschleppt hatte wie so oft. 'Allzuviel

Stubenhockerei' so einer ihrer Sprüche, 'würge die Lebendigkeit'.

Wirklich? giftete der Professor nun, eine Welle Herzlichkeit nach der anderen über sich ergehen lassend, dann musste der Steiß seines Gegenüber recht spitz sein: lebendiger ging es nimmer. Sie hatte ihn sofort erkannt, ihn wie einen vermissten Erbonkel schon von weitem mit offenen Armen umarmend. Heu? machte sie den gleichen O-Mund wie zuvor ihre Angestellte, ohne ihm ein Strählchen ihrer Herzenswärme zu entziehen. Täte es Stroh viel-leicht auch, ein paar diskret untergebrachte Halme e-ven-tu-ell – wäre dies dem Herrn Professor recht? Man könne na-tür-lich, selbst-ver-ständ-lich auch ein wenig Heu auftreiben, wenn der Herr Professor es nicht eilig...

Doch! der hatte. Sehr sogar, im wahrsten Sinne des Wortes die angebotenen Strohhalmen ergreifend. Strahlend und nickend brauste das Schlachtschiff in Zickzack-Kurs durch den Laden, um den Strauß zusammenzustellen, mit ihren eigenen Händen, per-sön-lich, nur noch ein kurzes Mo-ment-chen...

Doch irgendwann war selbst bei ihm der Geduldsfaden zu Ende. Den Mund zu einem zähnefletschenden Grinsen verziehend, erkundigte er sich säuselnd, ob nicht sie selbst den Strauß hinbringen könnte, am besten so-fort und höchst per-sön-lich? Viel-leicht sogar zu Fuß, es dauerte gewiss nur ein Mo-ment-chen...

Nun, ab und zu muss jeder sich mal blamieren. Mit einem letzten Rest guter Haltung rettete der Prof sich über die Schwelle in die Freiheit. Ufff. Beim Gedanken an den Klatsch, der sofort die Saltener Runde machen würde, spitzte er leichtsinnig die Lippen. Prompt fing das Wummern in seinem Kopf wieder an: Mensch, im Laden hatte er seinen Brummschädel so schön vergessen! Nun, wenigstens waren seine Nachbarn durch ihre Pseudo-Ponies nicht so exponiert, obwohl – früher oder später musste er etwas dagegen tun, das war ihm auch klar: Horst? Der junge Mann hatte ihn deswegen oft genug gelöchert, verstand sein ewiges Aufschieben nicht. Teufel, wie war er auf Horst gekommen? Ah, richtig, die neuen Nachbarn, atmete erauf. Nun, ob Heu oder Stroh, wahrscheinlich kapierte sie den Hinweis eh nicht, warum auch? Er setzte die Taschen kurz ab, um die Haustür aufzuschließen, sich innerlich die Hände reibend beim Gedanken an das dicke Sandwich, das er sich gleich zusammenbasteln würde; beging dann aber den Fehler, die Post durchzusehen...

Sein Gesicht leuchtete auf, vergessen war der Überfall, japanische Oberteile und das verbiesterte Knurren seines Magens. Er hatte lange auf exakt diese Erdproben gewartet, sogar herumtelefoniert - bei seinem Widerwille gegen die schrillen Genossen, die einen dauernd von der Arbeit abhielten und schlechte Nachrichten verbreiteten, ein kleines Wunder. Bald war er mitsamt Schmetterlingsbrille in die Unterlagen vertieft, die Proben mehrmals untersuchend, um jeden Zweifel auszuschließen. Er setzte sich kerzengerade hin, hilflos ins Leere starrend: Sinnlos es aufzuschieben, machte es nur schlimmer. Er kam sich dennoch wie ein Henker vor, als er die Papierrollen aus deren Versteck unter einigen losen Fußbodenlatten hervorholte. Sie waren keineswegs das, was die Wüteriche gesucht hatten - die hatten nichts gesucht, “nur“ ihr Mützchen an ihm kühlen wollen; doch er hatte keine Lust, jedes Mal neue anzufertigen - in jeder einzelnen Rolle steckte die Arbeit von mehrerer Jahren. Er entrollte eine der Landkarten, die mit gelben Strichen bedeckt waren, die sich kreuz und quer mal hier, mal dorthin schlängelten, die Ecken mit Mikroskopen beschwerend. Bedächtig fügte er zwei winzige Pünktchen hinzu und markierte sie, das heutige Datum und die nötigen Erläuterungen in seinem Notizbuch eintragend. Die nunmehr durchgehende Linie lief eine Strecke parallel zum Rhein, um sich dann mit dem Fluss zu vereinen. Eine tödliche Union, denn gelb - das bedeutete Gift.

Anfangs war er wie andere Hobby-Pedologen mit Köfferchen und langem Stab über Stock und Stein gestapft, fasziniert von der Vielfalt der Erde. Schleichend, fast unmerklich kamen im Laufe der Jahren immer mehr neue Elementen hinzu, hauptsächlich Chemikalien. Er hatte sich auf Gift spezialisiert, nicht um einige wenige zu ärgern oder zu helfen, sondern weil das Zurückverfolgen dieses Stoffes zu dessen Ursprung ihn faszinierte. Hätte er etwa Geschirrspülmittel wählen sollen?

Plötzlich knurrte sein Magen mit einer Intensität, die ihn errötend nach Zeugen umsehen ließ. Er streckte sich, die Intaktheit seiner Glieder und seines Kopfes überprüfend, und äugte zur Uhr: fünfzehn Uhr vorbei. Er hatte über vierundzwanzig Stunden gefastet, eine Tracht Prügel bezogen, ein Rätsel gelöst und fühlte sich ausgezeichnet, nur - wenn er nicht schleunigst etwas zwischen die Zähne bekam, garantierte er für nichts. Munter schritt er zur Küche, als es läutete.

Nanu? schoben seine Augenbrauen sich mitten auf die Stirn. In seinem Umfeld war sattsam bekannt, dass der Professor unangemeldete Besuche, zumal ohne Erdproben, nicht schätzte - und respektierte es. Zwei Ausnahmen: der liebe Alex und Wüteriche, die stets nach Mitternacht aufzukreuzen pflegten. Bisher. Und, spitzte der Gelehrte kichernd die Lippen: Rothaarige in Pyjamaoberteilen made in Japan. Nun, sein Bruder war es garantiert nicht, der spielte um diese Zeit mit seinen Autos... Vorsichtig öffnete er die Haustür und spähte hinaus.

“Hallo!” Draußen stand ein schlaksiger Junge mit sehr grünen Augen - wo hatte er die schon mal gesehen? - und endlos langen Armen und Beinen, deren Zappeligkeit eine Nervosität verrieten, die fast wehtat. Immerhin wich er den forschenden Blick seines Gegenüber nicht aus, stumm standen sie sich geraume Zeit gegenüber: der Junge und der nicht mehr junge Gelehrte.

Endlich spitzte der Ältere die Lippen, die Tür weit und einladend aufreißend. “Da bist du ja, kommst wie gerufen!” meinte er ungezwungen, während er zur Küche voranschritt. “Wollte gerade essen. Mach die Tür zu - muss ich dich siezen?“

Sein ungebetener Gast schüttelte grinsend seine dunkelblonde, halblange und sehr unordentliche Mähne, den Älteren an einem anderen Jungen, allerdings mit kurzen Haaren, erinnernd, vor zwei oder drei Jahrzehnten: Himmel, man wurde alt...

“Gut. Du isst doch mit, oder? Futtere nicht gern allein“, flunkerte der Gelehrte, der beim Essen einen Krimi vor sich aufzubauen pflegte wie der Musiker seine Noten, und sich immer überrascht nach Mitesser umsah, wenn der Teller leer war: wer war das schon wieder? Neben der Pedologie und der Gärtnerei war dies seine Lieblingsbeschäftigung, streng geheim.

Nach einem anstrengenden Arbeitspensum, ob am Schreibtisch oder im Garten - wer hatte da noch Lust auf Trockenkost? Zumal es bekanntlich schlecht für die Verdauung ist, beim Essen schwere Brocken zu sich nehmen, und wenn nicht dafür, dann gewiss gegen etwas anderes. Nun, und essen musste er, warum also nicht? Teufel noch mal, wieso lässt der Mensch sich von sogenannten Kapazitäten ein schlechtes Gewissen einreden, sobald er sich etwas widmet, was von jenen als seicht, wertlos, kurz: Zeitverschwendung klassifiziert worden war - und das seit der Vertreibung aus dem Paradies...? Vor sich hin pfeifend, stapelte der Professor zwei Sandwiches à la Münch. Er ernährte sich von Brot, Konserven, Fertiggerichten und dem Außer-Haus-Service hiesiger Lokale.

“Ich bin bei Robin Wood!” brüllte der Junge so laut und unerwartet, dass der Ältere sein Brotmesser erdrosselte. “Sie doch auch, oder?!”

“Nein”, musste der Gastgeber zugeben.

“Aber man kennt Sie dort!” schrie der Bursche, als befände sich einer von ihnen am anderen Ende der Stadt.

Zwei Bretter mit Sandwiches auf den kleinen Tisch in der Küche abstellend, wo er aus praktischen Gründen seine Mahlzeiten einzunehmen pflegte, setzte er sich dem Jungen gegenüber. “Guten Appetit, äh - wie war gleich dein Name?”

“Entschuldigen Sie!” dröhnte der Junge, erschrocken aufspringend. Weniger laut, aber zackig, knallte er seine Turnschuhe zusammen und donnerte: “Christian Schikorra, abgekürzt Chris! Wohne gleich nebenan! Hab gedacht, ich könnte mich hier nützlich machen: Erde sammeln, Botengänge, Briefe tippen oder so! Sie würden mich gar nicht bemerken, ich kann...!” Er hielt inne, schien viel mehr auf dem Herzen zu haben, wollte aber offenbar nicht aufdringlich erscheinen und stopfte sich statt dessen das halbe Sandwich in den Mund als sei es das Ei einer unterentwickelten Henne.

Der Gelehrte sah ihn nachdenklich an. Der Junge warf zwar seine Annahme, Bescheidenheit äußere sich stets mit leiser Stimme, über den Haufen, aber wenn er sich die Ohren lose mit Watte stopfte... Er war ein engagierter Lehrer gewesen, fand es wichtig, Erwachsene von morgen über die zunehmende Verschmutzung, die Gefährdung aller Ressourcen aufzuklären. Es würde schon Spaß machen, seinen alten Lehrberuf ein wenig hochleben zu lassen, warum eigentlich nicht?

“Weiß deine Mutter, dass du hier bist?” erkundigte er sich vorsichtshalber.

“Och die!” tönte der Bengel. “Die pennt, behauptet, irgendein behämmerter Nachbar habe sie mit seinem Partykrach die halbe Nacht wachgehalten! Weiber!”

Der Professor blickte streng. “Redest du immer so von deiner Mutter?”

Chris errötete. “Nee! Aber ich habe in der Nacht kein Pieps gehört, ehrlich!” verteidigte er sich.

“Aber ich”, wies ihn der Prof zurecht. "Es war sehr laut, ehrlich! - Komm mit“, schob er seinen Stuhl mit den Kniekehlen zurück, dem Jungen leichtfüßig wie lange nicht mehr voranschreitend. Vielleicht hatte Tantchen so unrecht nicht mit der Stubenhockerei, er hatte übertrieben in letzter Zeit. “Als erstes zeige ich dir mein, äh: unser Arbeitsreich.”

Der Anfang einer echten Männerfreundschaft. Sie verstanden sich gut, sich aufs Wissenschaftliche beschränkend und jede private Note selbst während der Esspausen vermeidend. Eines Tages jedoch, als der Gelehrte die flaue Ahnung eines bevorstehenden Überfalls in der Magengrube hatte, wich er ein wenig von den ungeschriebenen Macho-Regeln ab: “Du hast deiner Mutter hoffentlich inzwischen gefragt, ob sie mit deinen Besuchen bei mir einverstanden ist?” erkundigte er sich beiläufig, während seine Augen desinteressierte Löcher in die Luft bohrten.

“Gefragt?!” brüllte der Junge, als habe das Wort eine andere Bedeutung: 'geprügelt' etwa. “Bei uns wird nicht gefragt! Ich hab's gesagt und sie hat nicht mit der Wimper gezuckt!”

“Pflegt deine Mutter denn mit der Wimper zu zucken?” zog ihn der Prof auf.

Chris gab grinsend zu, dass dies nicht der Fall war, konnte sich aber den Zusatz: “Dann schon eher mit dem Fuß!” nicht verkneifen.

“Christian Schikorra”, hob der Ältere in strengem Tone an.

“Iss gut, iss gut!” wehrte der Lausbub hastig ab. “Nehme es zurück!” Er ließ die Zunge aus dem Mund hängen und hechelte. “Dich möchte ich mal mit einer solchen Mutter erleben - die Frau ist unverwüstlich!”

Die Mundwinkel des Professors zuckten. “Vielleicht”, schlug er ernsthaft vor, “bleibt ihr bei dem Nachwuchs keine andere Wahl. Bekanntlich gedeiht Unkraut am besten in der wilden Natur.” Bevor der Junge darüber nachdenken konnte, fuhr er schnell fort: “Hast du ihr gesagt, dass wir beide uns offiziell nicht kennen dürfen, jedenfalls nicht im positiven Sinne, weil mein Bruder euch eventuell auf die Straße setzen würde?“

Chris winkte ab. “Ist sie von alleine drauf gekommen!“ Er räusperte sich wie um anzudeuten, dass es Wichtigeres gab auf dieser Welt, auf die Analysen einiger Erdproben zeigend: „Was hältst davon?“

Männer, echte Männer, sprechen nicht über ihre Mutter.


Eigentlich sind in diesen drei Kapitel alle präsent. Ja gut, Tonis Ex kommt noch, der Mann, der angibt, haufensweise Mitmenschen über die Mauer (ja, die Mauer) gerettet zu haben – gegen Bezahlung; und die Horden von Studenten und Spezialisten, die wochenlang im Doppelhaus logierten, um den Giftherd einzukreisen, der die Gegend allmählich unbewohnbar machte; ja, und natürlich der Verursacher, der Tonis Sohn entführte, damit der Prof den Mund hält. Und noch ein paar - benutzt eure Phantasie, steht doch alles da. Oder fragt mich.

Es gibt da allerdings ein Problem: als konsequenter Aussteiger dieses geldtriefendes Systems bin ich an Geld nicht interessiert. War ich nie. Ein Tausch wäre optimal – Ideen?