m e n u
 corona blues - ein lesegeschenk  lubeck  kleine erzaehlungen  vier leseproben von romanen - gegen grundstueck eintauschbar  das heulmeisje und ich  hexy house  witch tells tiny tales  off the beach - a corona gift // about me

marke: solo, 1989

(leseprobe)


I. vielzweckschlüsselaufbewahrungsnagelbrettgestell

  Hysterisch - er?! Die Empörung schien ihn anschwellen, um Zentimeter wachsen zu lassen, dann gab er sich einen Ruck und stapfte zum Waschbecken, sich im Spiegel darüber begutachtend: zwei blau-blitzende Augen und etwas gerötete Wangen - ja und? Als Mann in den noch lange nicht besten Jahren war es sein gutes Recht, wenn nicht Pflicht, hie und da etwas männlich-gesunde Erregung zu zeigen, sonst machten die Weiber was sie wollten.

  "Ich bin nicht hysterisch!" fauchte der Spediteur. "Ein wenig verwundert", räumte er ein, "etwas erstaunt vielleicht..." - Teufel! wie kam er dazu, sich vor der eigenen Angestellte zu rechtfertigen? Sich abwendend, fegten seine Arme einige in einem Büro unvermeidlichen Gegenstände vom Schreibtisch: ein Aschenbecher samt Inhalt schepperte gegen die Wand, es hagelte bunte Büroklammern und obendrauf legte sich ganz sachte eine schneeweiße Decke aus Schreibmaschinenblättern...
  Verärgert über die eigene Tolpatschigkeit, drehte er ein paar schnelle Runden um den Schreibtisch, im Vorbeigehen die Statistiken, Poster und Tabellen, die an der Wand hingen, zum Flattern bringend - Tina Turner machte einen Zeitlupen-Kotau, nur noch an ihren rassigen Füßen hängend, mit dem Gesicht zur Wand.
  "Warum sollte gerade ich hysterisch sein?!" kratzte er sich am Kopf, nach Gründen kämmend. "Ich habe eine gutgehende Spedition, soundsoviel gutgehende Wagen, noch mehr gutgehende Fahrer und..."

  "Einer ist krank", machte seine Sekretärin den Mund auf.

  Er ignorierte den Zwischenruf. "...und eine Sekretärin, der es so verdammich gut geht, dass sie ihrem Chef vor lauter Glückseligkeit an den gutgehenden Kopf zu werfen wagt, er sei hysterisch! Und warum?!" kippte seine Stimme ins Soprane. Er setzte ab und räusperte sich. "Weil dieser Hund von einem Vorgesetzten es gewagt hat, die dubiosen Machenschaften besagter Dame zu kritisieren, ha!" Er schaute finster auf sie herab: war doch gut gesagt, oder? Und so sachlich.

  Die Dame hatte die Beine lässig übereinandergeschlagen, sah interessiert auf ihren auf und nieder wippenden Fuß und - schwieg.

  "Macht nichts", zischte er. "Tut nichts zur Sache, nicht aufregen, ich flehe Sie an! Bleiben Sie ruhig sitzen und schauen mir beim herrlichen Gutgehen zu, ich bitte Sie!" Jählings drehte er sich auf dem Absatz um und rauschte hinaus, als fürchte er um die eigene Beherrschung. Leise fiel die Tür ins Schloss. Alle Türe der Firma Münch waren mit einer elektronischen Vorrichtung versehen, die nebenbei das Zuknallen verhinderte.

  Dina horchte einen Augenblick aufmerksam, bevor sie das Band festzog, das ihr kastanienbraunes langes Haar zusammenhielt - ein Handgriff, der bei ihr das Ärmelhochkrempeln ersetzte - und sich daranmachte, die alte Ordnung wiederherzustellen. Die knappen Bewegungen verrieten Routine und den Selbstdisziplin einer Frau, die sich unter Kontrolle hatte. Jederzeit.
  Im Nu sah der Raum aus wie vor einer knappen Viertelstunde: nüchtern und aufgeräumt - wie dessen Hauptnutznießerin es zu sein vorgab. Sie hatte Übung, war die Ausfälle ihres Chefs gewohnt. Früher hatten die einseitigen Gefechte sich hauptsächlich in seinem Luxusbüro nebenan abgespielt. Ein teurer Spaß. Das Büro eines erfolgreichen Geschäftsmannes muss Eindruck schinden: ein Stuhl mit nur drei Beinen, knirschende Glasscherben unter den Schuhen eines potentiellen Kunden - das ging gar nicht. Im Endeffekt war es vorteilhafter bei einer Sekretärin hysterisch zu werden, deren Billigmöbel sich oft als schmerzhaft stabil erwiesen, und die als Frau wegen der hinterher fälligen Säuberungsarbeiten ohnedies besser geeignet war. Yeah. Geschah es dennoch, dass irgendwas in die Brüche ging: ein liegengelassener Regenschirm etwa oder ein Töpfchen Handcreme, kein Problem: Dina ersetzte es und der Boss unterschrieb hinterher stillschweigend die Rechnung - alles mit der Automatik altgedienter Schmierenkomödianten, die nichts aus der Ruhe bringen können. Der Ärger über die eigene Ungeschicklichkeit war ebenso spontan und ehrlich wie das Zähneknirschen beim Bezahlen hinterher, und doch suchte Alex mit unterbewusster Heimtücke nach etwas zum Kaputtmachen...

  Energisch befreite Dina die Turner aus deren Bauchlage und schaute sich um. Sie verzog den Mund, als ihr Blick auf das alte Schlüsselbord fiel, das neben der Tür zum Flur hing: ein hässliches Brett mit zehn mal zehn zum Teil rostiger Nägel: die oberen für die Wagen-, die unteren für die Türschlüssel der Spedition. Der Boss hatte das klobige Stück Holz zusammen mit seinem ersten Wagen, einem echten Bull Trucker, erstanden, und hütete beide Oldtimer wie seine Augäpfel. Dinas Belustigung galt dem Umstand, dass Alex das Bord nicht einmal streifte, egal wie rasend er war - auch der Spiegel über dem Waschbecken blieb verschont. Dabei hingen beide einladend lose an jeweils einer einzigen Schraube...

  Dina hatte kaum Zeit, sich das amüsierte Lächeln vom Gesicht zu wischen, der Chef konnte auch leise sein wenn er wollte. Er verlor kein Wort über ihre Säuberungsaktion, sich nicht einmal umsehend, schien sich aber beruhigt zu haben.

  "Und?" erkundigte er sich fast gähnend. "Was haben wir uns dabei gedacht, als wir dieses rothaarige Weib als Fahrerin anstellten, häh?" An eine Antwort interessiert, verkniff er sich die Zusatzfrage, ob sie des Denkens überhaupt fähig sei, und wartete.

  Sie schlug die Augen nieder. "'Das Beste vom Besten'" zitierte sie mit tiefer Stimme. Normalen Tones setzte sie hinzu: "So lautet unser Firmenmotto, so pflegen Sie immer zu sagen..." Sie zögerte kaum merklich. "Also habe ich halt das Beste vom Besten genommen. Punktum."

  Alex verzog angeekelt das Gesicht. Allerdings, so pflegte er zu sagen...

  "Außerdem", beeilte sich Dina hinzuzufügen, "ließen Sie mir ausdrücklich freie Hand, hatten Wichtigeres zu tun."

  Auch wieder wahr. Alles, was seine unbezahlbare Sekretärin je sagte oder tat, hatte Hand und Fuß, ach was: Finger und Zehe! Immer. Die Empfehlungsschreiben und Papiere des "rothaarigen Weibes" waren überwältigend, die Frau musste von klein auf anstatt Muttermilch Diesel zu nuckeln gekriegt haben. Nicht nur hatte "man" eine Fahrpraxis von mehr als fünfzehn Jahren ohne einen einzigen Punkt in Flensburg vorzuweisen, nein, auch mehrere Preise im Geschicklichkeitsfahren. Beachtlich. Unter allen Bewerbern hatte seine rechte Hand souverän "das Beste" herausgepickt, aber ja. Und die Auswahl war groß gewesen. Zwar waren Fahrer, die halbwegs jung und erfahren waren, Mangelware, doch galt dieses Naturgesetz nicht für Saltener Betriebe mit guter Bezahlung, sozialer Absicherung, Fairplay und Bonusse noch und noch, wie das bekanntlich bei der Spedition Münch der Fall war. Sie hatten nicht einmal eine Annonce aufgeben brauchen, so was sprach sich herum... Nun, jedenfalls schien die Liste aller Auszeichnungen und Fähigkeiten dieser Person so lang wie deren zurückgelegte Kilometerzahl, wenn nicht länger, und Dina, die Gewissenhafte, hätte glatt die Daten der einzelnen Milchzähne mit heruntergeleiert...

  "Nehmen Sie halt das Beste vom Besten wie üblich, und verschonen Sie mich mit dem Kleinkram", hatte Alex daher unwirsch angeordnet und sich Wichtigerem zugewandt...

  "Und warum", bohrte er weiter, "haben Sie die Kleinigkeit unterschlagen, dass dieser Geschicklichkeitsfahrer eine Frau ist, hat sie's beim Vorstellungsgespräch nicht erwähnt?" höhnte er in Anspielung auf die nicht eben flachen Formen der Neue.

  "Aber Chef!" quiekte die Holde mit Güh-Güh-Gäh-Gäh-Augen. "Sie wollen damit doch nicht andeuten, der zweitbeste Fahrer sei Ihnen lieber als die allerbeste Fahrerin?"

  Alex schwieg verstimmt. Exakt das war es, was er nicht nur hatte andeuten wollen, doch in der heutigen emanzipierten Zeit als Unternehmer sagte man sowas besser nicht. Immer häufiger hatte er es mit Frauen in leitender Position zu tun. Kaum hatte man sich an den Anblick vom weiblichen Managers des hiesigen Fußballverein gewöhnt, musste man sich von dem Tiefschlag erholen, einen Kredit abgelehnt zu bekommen - ausgerechnet von einer Frau. Über Nacht schossen sie aus dem Nichts wie Pilze im unschuldigen Walde. Was sollte er tun, die Pilze anderen überlassen? Davon wurde er auch nicht satt.

  Ein besonders giftige Exemplar stand vor ihm, treuherzig lächelnd. "Außerdem haben Sie nicht gefragt", setzte sie hinzu. Er gab Zischtöne von sich, was sie locker als Zustimmung deutete. "Sehen Sie!" flötete sie. "Nun mal ehrlich: Sie waren bei Ihrem Bruder, sind wieder mal abgeblitzt und daher ein wenig gereizt, stimmt's?" Dina wusste, diese Runde hatte sie gewonnen, gönnte ihrem Chef aber einen ehrenvollen Abgang. Zwei Augenpaare, eines hellblau und ohne Falsch, das andere dunkelblau und misstrauisch, beäugten sich wie die Uhus, nahmen Maß.

  Nach einer Weile wandte Alex den Blick ab. "Na ja", gestand er resigniert, "der alte Esel nimmt einfach keine Vernunft an..." Besagter Esel war keine zwei Jahre älter als der Spediteur, zwei Jährchen, die der Jüngere seit einer Jahrzehnt nach Belieben zu strecken pflegte. Okay, er war kein Teenager mehr, aber frischer als dieser Greis mit den Elektrohaaren allemal - und überhaupt: Brüderschaft, wo gab's das noch, ein längst verschüttetes Wort aus Karl May...

  Vom Vater von klein auf zur 'gesunden' Konkurrenz angespornt, brauchte der erwachsene Alex das ständige Messen der Kräfte, während es dem Älteren egal war. Der Tod des alten Münch hatte an dieser Kommunikationsart nichts zu ändern vermocht, im Gegenteil alles noch verschlimmert, denn ohne Zustimmung des Bruders durfte keiner sein Erbe veräußern. Keine schöne Sache, wenn es sich um zwei Hälften desselben Hauses handelte. Anfangs hatte der Ältere sein "vergiss es!" jahrelang sechshundert Kilometer per Post vorbeigeschickt, später sorgten seine Kollegen an der Universität dafür, dass der Gelehrte diesen papiernen Schein der Gleichgültigkeit gegen die härteren Münzen der Anteilnahme eintauschen musste.

  Selbst Schuld. Als Lehrer, gar Professor hatte man nach gewissen Grundsätzen zu lehren, wenn schon nicht daran geglaubt werden konnte. Nur Studenten, Wahnsinnige und Politiker konnten sich ein Stänkern gegen Vater Staat leisten; abtrünnige Pädagogen auf vom Elternhaus noch warme und biegsame, künftige Steuerzahler loszulassen, war sträflich - eine Art Selbstmord auf Raten. Nun, man hatte es im Guten versucht, mit Vernunft, mit versteckten, dann offenen Drohungen. Zuletzt war der Lehrkörperschaft nichts übrig geblieben, als den Widerspenstigen um seine Entfernung zu bitten, wobei 'bitten' nicht das exakt richtige Verbum war. Aber er ging, das war die Hauptsache. Warum sollte er nicht? Er hatte seine Ersparnisse, seine Haushälfte, das verzinste Startkapital des Vaters sowie die ebenfalls angewachsene Erbschaft der Mutter, diverse interessante Hobbys und mit einem Male soviel Zeit wie man sich nur wünschen kann, sich all diesen schönen Dingen zu widmen. Dazu eine Pension, die sich sehen lassen konnte, vor allem wenn man bedachte, wie wenig er dafür tat, getan hatte. Glück, was willst du mehr?

  Der kleine Bruder hatte andere Vorstellungen vom Glück, hatte früh seinen ersten Lastwagen gekauft, und dann noch einen und noch einen und noch einen - tja, und irgendwann reichte seine Haus- und Grundstückhälfte nicht mehr, die überdies im feinsten Wohngebiet lag. In dieser kritischen Phase, just als es dem Jüngeren juristisch/nachbarschaftlich an den Kragen ging, kreuzte der große Bruder auf, und was tat der?

  Nichts.

  Der Bursche erwies sich als genauso borniert und rückständig wie die lieben Nachbarn - und sowas hatte man als Radikaler von der Uni gejagt? Ha, der Kerl besaß nicht einmal ein Auto, man stelle sich vor...

  Zu guter Letzt hatte er, Alex, umziehen müssen, vielmehr: seine Wagen waren umgezogen und er selbst zuckelte nach einiger Zeit brav hinterher. Es war dem Unternehmer gelungen, im Industriegebiet eine ausgediente Lagerhalle, einige Garagen und viel Gelände zu ergattern - spottbillig! Recht nobel eigentlich, einem unkooperativen Verwandten nach viel Ungemach das Feld zu überlassen - und was hatte er dafür verlangt: etwa Geld oder gar Dank? N-nein. Eine klitzekleine Unterschrift, mehr nicht. Einen Tintenklacks, den er benötigte, um seine verflixte Haushälfte zu verkaufen, eine Haushälfte, mit der er nichts anzufangen wusste und nichts als Schwierigkeiten gehabt hatte und deren Veräußerung ihm Luft verschafft hätte, da er sich finanziell etwas - nicht der Rede wert! - verkalkuliert hatte. Naja, und da war noch dieser kraftvolle Mercedes-Benz, den er unbedingt haben musste, weil - nun, egal warum, jedenfalls war der Wagen tipptopp und günstig zu haben, aber wie lange noch?! So ein kleiner Namenszug war unter Brüdern nicht viel verlangt, oder? Offenbar doch. Der ach so humane Professor zog es vor, eine große Wohnung, ein ganzes Haus leerstehen zu lassen, während Tausende und Abertausende von Obdachlosen verzweifelt auf der Kuhweide zelteten. So einer was das, aha...

  Zähneknirschend erzählte Alex vom Blitzbesuch beim Bruder am Abend zuvor. Es war ihm gelungen, dem alten einsamen Gelehrten die idealen Nachbarn zu verschaffen: ruhig, kinder- und haustierlos und arbeitsam. Sie hatten keinerlei Nachwuchsabsichten, waren umweltfreundlich (alle drei Autos, das Motorrad und der Roller waren mit Katalysator versehen), handwerklich begabt, ordnungsliebend und willens, Wäsche und Einkäufe des gewiss ungelenken und zerstreuten Professors zu besorgen. Mit Engelszungen hatte Alex auf den Dickkopf eingeredet, genug Überzeugungskraft in seine Worte gepackt, um die Titanic erneut zu versenken. Umsonst. Adieu, schöne Träume, lebwohl, oh prachtvoller Mercedes-Benz, möge dein künftiger Besitzer an deinen Abgasen ersticken!!...

  Nein, diese Unterredung hatte mit der üblichen Türknallerei geendet. Der geplagte Mann stöhnte: Warum er, warum immer nur er?!

  Seine Sekretärin murmelte mitfühlende Vokale oder schüttelte den Kopf, je nachdem. Kaum hatte er sich ausgejammert, wieselte sie zu einem hässlichen Schrank und schloss auf, eine Thermoskanne und zwei dicke Mugs hervorholend. Beim Einschenken sah sie kurz hoch:
  "Vermieten Sie Ihre Haushälfte doch einfach. Dazu brauchen Sie keine Unterschrift, oder?"

  Alex war zu niedergeschlagen, um sich wie üblich über die Dummheit der Weiber im allgemeinen und seiner Sekretärin im besondere zu mokieren und hob eine Schulter.
  "Das bisschen Miete, was soll ich damit: Scheibenwischer kaufen? Wie Sie wissen oder wissen müssten, brauche ich eine größere Summe, um die Firma zu expandieren und einige Schulden zu tilgen. Dringend."

  Dina nickte verständnisvoll, taktvoll übergehend, dass der Boss seit Jahren den Erlös des Hauses benötigte. Dringend.

  "Und um den Hausmeister zu spielen", fuhr Alex wegwerfend fort, "fehlt es mir an Kleinkariertheit - Klotzen muss man, wenn man etwas erreichen will, mein Kind."

  "War nur ein Gedanke...", nickte das Kind. "Ich dachte, nun, wenn Ihr Bruder mit den neuen Nachbarn nicht klar käme und dann um jeden Preis loswerden möchte..." Sie wandte sich mit einem Achselzucken ab und fing an, die inzwischen leeren Mugs abzuspülen. Als ordentlicher Mensch schätzte sie es nicht, Dinge herumliegen zu lassen, und wenn es für eine Nacht wäre. Über die Schulter hinweg erkundigte sie sich im Geschäftston: "Was ist mit dem eben eingegangenen Frachtbrief? Soll ich ihn noch schnell fertig machen? Ist nämlich gleich Zapfenstreich."

  Keine Antwort.

  Sie drehte sich um. Alex schien gedanklich weit weg. Halblaut vor sich hinmurmelte, kratzte er sich am Ohrläppchen, während seine Sekretärin mechanisch das Geschirr in den Schrank räumte und abschloss: man konnte nie wissen.

  "Wie wäre es mit Petra und Martin?" störte er sie bei ihren bald-ist-Feierabend Vorbereitungen.

  "Wie bitte?" machte die Tüchtige ein törichtes Gesicht.

  "Nun, als Mieter natürlich", erinnerte er sie ungeduldig.

  Sie spitzte den Mund, während sie die Schreibtischplatte abwischte und zur Waschecke schritt, um den Lappen auszuspülen und an den Haken neben dem Spiegel aufzuhängen.

  Alex verfolgte jede Bewegung, wagte aber nicht sie zu drängen.

  "Ordinär genug wären sie", lautete endlich ihr Urteil, "aber zu nett. Ihr Bruder ist netten Leuten gegenüber wehrlos."

  "Stimmt. Sie sind mit uns verwandt, ich vergaß."

  "Nur ganz entfernt!" protestierte sie. "Angeheiratet sozusagen."

  Ihr Chef war von der Möglichkeit, doch noch zu seinem Geld zu kommen und gleichzeitig dem Sturkopp eins auszuwischen zu gefesselt, um das wenig Schmeichelhafte ihrer Verwandtschaftsverleugnung zu bemerken. "Machen Sie doch einen Vorschlag, Sie Schlaumeier!" forderte er gereizt. "Etwas Anständiges müssen Sie doch leisten, Ihr fürstliches Gehalt zu verdienen."

  Sie brachte ein papierdünnes Lächeln zustande. "Eine bloße Angestellte ist für derlei Denktätigkeiten zu kleinkariert. Im übrigen bin ich seit" - sie warf einen Blick auf die Uhr - "sechseinhalb Minuten Privatperson. Guten Abend, Herr Münch."

  "Hab dich nicht so", duzte er sie unwillkürlich wie in vergangenen Tagen, als sie noch nicht bei ihm angestellt war. Lässig schob er sich zwischen Dina und der Tür, ein gewinnendes Lächeln auf den Lippen.

  Die Sekretärin verzog das Gesicht. "Schön, überlegen wir also: Was kann der Prof nicht ab, welche Abneigungen und Aversionen hat er...", murmelte sie. "Er mag keine Frauen..."

  "Nicht?!" plärrte Alex, Entsetzen im Gesicht. "Mir neu..."

  "Soll ich mein fürstliches Gehalt nun heute verdienen oder erst Ostern?" rügte sie.

  "Oh. Bitte bitte. Fahren Sie fort."

  Sie schloss die Augen, wie um seinen Bruder vor ihrem inneren Auge zu sehen. "Also - er mag keine Frauen... keinen Lärm..., zählte sie auf. "Außerdem mag er keine Autos und hasst es, bei der Arbeit gestört zu werden... Hm, wie wäre es mit..." Sie brach ab, die Augen aufreißend. "Oh jé, wenn ich das vorschlage, reißen Sie mir den Kopf ab!"

  "Nun, sagen Sie schon!"

  Statt einer Antwort bewegte sie sich resolut zur Tür, war aber nicht schnell genug - wie eins seiner Brummis hatte Alex sie überholt und stand vor ihr, die Arme ausgebreitet.

  "Pfft", machte Dina, sich umdrehend und gottergeben in ihren altmodischen Drehstuhl setzend. "Sagen Sie nicht, ich hätte Sie nicht gewarnt! Ich kenne jemanden, der in Frage käme: Eine weibliche Person, sehr temperamentvoll, hat ein Kind im schlimmsten Flegelalter, eine geschwätzige Schwiegermutter, ein uraltes Auto und zwei Hunde, groß wie Shetlandponys..."

  "Wer?!!"

  "Das rothaarige Weib", bekannte sie zaghaft. "Antonia Schikorra, neueste Erwerbung der Spedition Münch, Geschicklichkeitsfahrer und..."

  "Gottchen", hauchte er, sich nach einer Sitzgelegenheit umschauend.

  Bereitwillig machte sie ihm Platz. "Sie fährt für ihr Leben gern, und ihre Hunde bellen, unter anderem..." Sie hielt inne, um dann bedeutungsschwer hinzuzufügen: "Wauwau, woefwoef! Buddel, buddel, scharr, scharr...!"

  Alex hob reflexartig einen Zeigefinger, der auf halbem Weg zur Stirn innehielt, während ein Aha-Leuchten über seine Gesichtszüge ging: Natürlich! warum war er nicht selbst darauf gekommen? Dieser vertrottelte Naturmensch war ja total närrisch mit seinem Grünzeug, ließ alles kreuz und quer wuchern und sagte "Garten" dazu. Als Alex noch in seiner Haushälfte gewohnt hatte, war er mehr als einmal Zeuge von Freudentänzen gewesen, die der alte Narr beim Aufblühen gewisser exotischen Pflanzen hingelegt hatte. Nun, bereits als Kind hatte der Kauz seltsame Dinge angestellt...

  "Setzen Sie sofort einen Mietvertrag auf!" Der Geschäftsmann jodelte es beinahe, einige Fred-Astaire-Schritte zur Tür machend. "Aber wenn etwas kaputt gehen sollte - ich will nichts davon hören, verstanden? Verstopfte Abflussrohre, leckes Dach - sie soll es gefälligst selber flicken, klar? Schreib das klar und deutlich mit rein!"

  "Gleich", meinte Dina gelassen. "Sobald ich den Frachtbrief..."

  "Zum Teufel mit dem ollen Frachtbrief!" dröhnte er gutgelaunt. "Sehen Sie zu, dass das famose Weib heute unterschreibt und mitsamt Anhang einzieht. Mit großzügigen Kündigungsmöglichkeiten meinerseits, versteht sich - Sie wissen schon." Den Türgriff bereits in der Hand, drehte er sich noch einmal um und wiederholte ausdrucksvoll: "Heute noch!"

  Dina zählte langsam bis zehn, bevor sie sich ans Fenster begab, auf die hohe Gestalt des Chefs wartend. Ihre Lippen kräuselten sich, als er im weißen Cabriolet verschwand, der wie immer direkt vor dem Eingang stand. Mit einer Ginger-Rogers-Parodie tänzelte sie zu ihrem Schreibtisch zurück, wartete aber noch etwas. Erst als sie den Motor hell aufheulend durchs Tor rasen hörte, hob sie den Hörer und wählte ihre eigene Nummer.

  "Toni? Es hat geklappt, gleich komme ich mit dem Mietvertrag, ja? Stell schon mal eine Flasche Sekt kalt..."





II. fernverkehrsautobahnschilderzementzockelabmessung

  Dreiundzwanzig lange Minuten hing die Truckerin nun schon wie angeseilt hinter einem knallroten Volkswagen mit verbeulten Kotflügeln und Baby-an-Bord-Schild: noch so'n Würstchen, das die Straßen zum Abbau von Minderwertigkeitskomplexen benötigt, ätzend. Vor sich keine Sau, hinter sich weit und breit kein Schwein zu sehen, doch sie war wegen einer bürokratischen Kleinigkeit namens Überholverbot dazu verdammt, die Abgase einer unkatalysierten Blechschachtel zu inhalieren. Eisern ließ sie den Finger von der Hupe, den Gefallen würde sie dem Würstchen nicht tun, oh nein. Der Überholverbot galt nur für Lastwagen, dabei waren einige Laster technisch besser ausgestattet und auf jeden Fall mit fähigeren Fahrern bestückt als - verdammt, nun blinkte der Frechdachs gar, Schluss mit lustig! Das Lenkrad nach links reißend, beschleunigte Toni, um kurz darauf abzubremsen, denn der Lümmel hatte ebenfalls einen Zahn zugelegt und zog nun voller Triumph aufheulend davon, als habe er jahrelang just für diesen Moment trainiert: David schlägt Goliath, üüüäääh!

  Vor sich hin schimpfend lenkte die Rothaarige den Wagen auf die rechte Spur zurück und drehte das Radio lauter, normalerweise ein unfehlbares Mittel gegen schlechte Laune.

  "...fünf Jahre Umweltpolitik haben nicht etwa wie versprochen weniger Stickoxide gebracht", verkündete eine männliche Stimme gewichtig.

  Toni stöhnte: solche Töne bekam sie daheim genug zu hören, wie wäre es mit Musik, Kumpel?

  "...statt dessen hat man ganze 7 % mehr nachgemessen. Aa-bär sicherlich ist das Ergebnis sogar positiv zu bewerten", fuhr der Kumpel ungerührt fort, eine Kunstpause einflechtend, als zitiere er Hamlet. "Gewiss werden die Herren Politiker nun fromm einwenden, ohne ihren Einsatz wäre es mindestens um die Hälfte mehr geworden, wären ganze Gebiete unter einer Smogglocke verschwunden wie in gewissen Nachbarländern, wo man... - Kwiiit", fiel das Radio sich selbst ins Wort. "Wir unterbrechen unser Programm mit einer aktuellen Verkehrsmeldung: Auf der Autobahn E45 Richtung Hamburg hat es einen schweren Unfall gegeben. Inzwischen gibt es einen Stau von circa zwei Kilometer Länge. Autofahrer, die in..."

  Nein! schimpfte Toni erneut los, wenn auch lautlos, um die Empfehlungen nicht zu verpassen. Für sie bedeutete dies ein Umweg von dreiviertel Stunde. Mindestens.

  Die Rothaarige bog in die nächste Ausfahrt; das Radio hatte sie leiser gedreht, um nicht schon wieder die Nachrichten hören zu müssen.

  Es war kurz nach Mitternacht. Geisterstunde. Was hat es für einen Sinn, sann sie träge vor sich hin, ein Gähnen unterdrückend, so gegen die Uhr zu fahren? Es ist so spät, kein Hahn kräht danach, ob Fernfahrer Schikorra in Andorra zeltet oder zu Hause schläft... Nun? Der Sinn liegt darin, liebe Antonia, säuselte eine bekannte helle Stimme in ihrem Hinterkopf, dass du es dir erstens vorgenommen hast und zweitens am liebsten im eigenen Bette aufwachst. Abgesehen davon, dass Pünktlichkeit und Ausgeschlafensein für einen Trucker, mischte sich ein Baß ein, einen echten Trucker, so unvereinbar sind wie... Toni schmiss die elterlichen Stimmen über Bord, um sich besser konzentrieren zu können: wie Marzipan und Ketchup. Bäääh! streckte sie ihrem dunklen Spiegelbild im Fenster eine vor Kaffee nahezu schwarze Zunge heraus. Das können wir besser, Mädel! Ihre etwas zu kleine Nase krümmte sich nach unten beim Einsaugen ihrer Oberlippe: wie Fantomas und Peter Alexander, wie...

  Als sie nicht länger widerstehen konnte und zur Uhr schielte, griente sie. Fast zweiundvierzig Minuten hatte sie mit dem sinnlosen Ausdenken absurder Vergleiche herumgekriegt, ein neuer Rekord. Müßig erwog sie die Möglichkeit einer Teilnahme an den Olympischen Spielen, kicherte und schalt sich gleichzeitig albern, während der Lastwagen in elegantem Bogen in die heimische Einfahrt rauschte.

  "Spedition MÜNCH", las sie immer noch freudig und dankbar, darunter kleiner:
"Schonen Sie Ihr Eigentum, Ihre Nerven und die Umwelt - fahren Sie MÜNCH!"
- diesmal quittegelb auf grünem Hintergrund. Wenn der Chef seinen Namen nicht an jede Mauer, jedes Bäumchen malen dürfte, bit-te, aber keiner konnte ihn daran hindern, die erlaubten Schilder in immer neuen Farben leuchten zu lassen, damit sich ja niemand daran gewöhnen konnte. Sie parkte, schloss ab und strebte mit langen Schritten auf ihr eigenes Auto zu. Auto? Eher Kinderwagen. Keines dieser flotten Dinger mit Fell, elektronischem Schiebedach und und und, nein, ein Autochen, in dem jeder halbwegs normal gebaute Mensch, der mitwollte, sich die Beine quasi hinter die Ohren klemmen musste, um dem Fahrer das Lenken nicht gänzlich unmöglich zu machen. Toni hatte das Dingelchen vor sechzehn Jahren gekauft und hing daran, wie sie mit der Zeit an allem hing was irgendwelche Macken hatte; reibungslos funktionierende Sachen, Tiere oder Menschen langweilten sie. Wie winzig, wie spielzeughaft klein ihr Wagen sich nach dem dicken Brummi ausmachte. Wie eine Nadel neben der Freiheitsstatue, wie... Manno! stöhnte sie in komischer Verzweiflung. Das Blöde war, die albernen Spielereien verfolgten sie nach einer längeren Tour regelrecht - mitunter bis in den Schlaf. Nichts Schlimmes eigentlich, nur - lästig. Zumal es sich als immer kniffliger erwies, neue Begriffe zu finden, je länger man dabei war: wie... wie...

  Den Heimweg schaffte sie in vier einigermaßen brauchbaren Vergleichen, beim fünften sank sie auf ihr Bett und war augenblicklich eingeschlafen. Ein guter Fahrer, so ein Sprüchlein ihres Vaters, kann zu jeder Zeit, in jeder Lage und überall einschlafen. Sofort.

...in hotpants schlittenfahren macht spaß - antonia, ziehe auf der Stelle etwas
vernünftiges an, doch eine lange schlange rotblauer käfer versperrte ihr
den weg, und die hunde bellten wie verrückt - ruhe, tom, kusch, jerry...

  Sie gähnte, schlaftrunken die Treppe runter schlurfend, und öffnete die Hintertür. Erst als Tom, der sich für Herumtollerei und andere Albernheiten zu gereift dünkte und entsprechend lange Krallen hatte, ihr auf den nackten Fuß trat, ging Toni auf, dass nicht nur ihr Traum sie, sondern sie irgendwie auch ihr Bett verlassen hatte. Ein nachträgliches "Autsch!" von sich gebend, riss sie die Augen auf und ließ einige weniger harmlose Vokale folgen. Prompt raunzte ihr Hinterkopf sie an: Eine schlechte Angewohnheit ist das Fluchen, Antonia, das musst du von deinem Vater haben...

  Toni ignorierte die Stimme und schritt hinaus in die Kälte.

  Dieser Nachbar! Kein Wunder, dass die Hunde sich so aufspielten, bei dem Lärm. Hörte sich an wie... wie zwei amerikanische Footballteams beim Aufwärmen in einem Restaurant. Oder wie... wie...

  Energisch schaltete sie ihre Spinnereien aus und dafür einen schnelleren Gang ein, quer durch den Garten zur anderen Haushälfte sprintend. Auf ihr Klingeln wurde es schlagartig ruhig, und dann - nichts. Ja, glaubte dieser seltsame Patron etwa, sie würde nun brav heimwärts dackeln, als wäre nichts gewesen? Nicht mit mir, mein Süßer! Spontan drückte sie den Türgriff herunter und erschrak nicht wenig, als die Tür nachgab: auweia, Hausfriedensbruch! Einen Moment auf der Schwelle verharrend, lauschte sie: nichts! - bevor sie kühn eintrat.

  Es war stockfinster, der Lichtschalter befand sich jedoch wie in ihrer Haushälfte links direkt neben der Haustür. Nachdem sich ihre Augen angepasst hatten, musste sie nicht nur wegen der Beleuchtung zwinkern: bei ihr war auch nicht immer alles picobello, aber dies...

  Kein Sessel, nicht ein Buch oder Blatt schien an seinem Platz, alles hing, lag, stand verkehrt herum wie von der dritten Etage heruntergeworfen, wie... wie Mikadostäbchen... wie... - Hör auf mit dem Unfug! Antonia, mäßige dich! Achtung, Mädel! riefen die Hinterkopfstimmen misstönend durcheinander, jählings verstummend, als Tonis Blick auf ein halbbekleidetes - oder heißt es halbnacktes? - Wesen fiel, das auf allen Vieren zwischen den verstreuten Gegenständen umher kroch. Toni gluckste. Der Krabbler musste sie gehört haben, ließ sich aber nicht stören. Offenbar ein Hippie, das Haar schien das gesamte Gesicht zu bedecken, sich hierhin und dorthin sträubend wie eine Wiese, wie ein Unkrautfeld nach einem Platzregen, wie... Unversehens drehte das Unkrautfeld sich um, Tonis naturkundliche Betrachtungen abwürgend, denn über einer der buschigen Brauen leuchtete eine tiefrote, leicht tropfende Sichel.

  "Was machen Sie da?" entfuhr es ihr.

  "Ich wohne hier", kam es trocken. "Und Sie?"

  Sie ließ sich nicht provozieren, zählte bis zwei und schnappte: "Ihre verruchte Party besichtigen. Hatte nichts Besseres zu tun und dachte: kiek mol rin auf'n Bierchen."

  "Aha", kommentierte er höflich. "Und das ist Ihr üblicher Party-Outfit?"

  Toni sah an sich herunter. Sie trug das lange und sehr bunte Oberteil eines japanischen Pyjamas - sonst nichts. Dann hob sie den Blick und schluckte. Sacht, ganz sachte stahl sich ein Lächeln in ihre Augen, um den Mund, breitete sich nach außen aus und hatte bald das ganze Gesicht erfasst.

  Unwillkürlich entspannte ihr Nachbar sich und spitzte die Lippen.

  "Wo ist Ihr Badezimmer?" wollte sie übergangslos wissen.

  "Zweite Tür, links", gab er bereitwillig Auskunft.

  Als Toni zurückkehrte, hatte er seine Herumkriecherei wieder aufgenommen. "Was, zum Teufel, suchen Sie da?" formulierte sie ihre Eingangsfrage neu.

  Er starrte hoch, überwältigt von ihrem Anblick: breitbeinig stand sie da, eine Hand in die Hüfte gestemmt, in der anderen seinen Verbandskasten. Mit der freien Hand hievte sie einen Sessel auf die Beine, dazu eine einladende Geste machend, als sei sie hier zu Hause:

  "Setzen Sie sich."

  "Ich kann ohne Brille nichts sehen", wandte er wenig sinnreich ein, nahm aber angesichts ihrer unerbittlichen Haltung Platz.

  Ein guter Trucker kann selbst im Schlaf Erste Hilfe leisten, sofern er etwas taugt, hatte Tonis Vater stets versichert. Nun, sah die Truckerin selbstironisch an sich herunter, zwar schlief sie nicht direkt, aber die Backgroundmusik stimmte.

  "Tz tz", machte sie, als ihr Nachbar unter ihren Händen aufstöhnte. "Ein Indianer kennt keinen Schmerz."

  "Meine Eltern waren so ziemlich deutsch" murmelte der Gescholtene kaum hörbar. "Nur Heino kann das toppen."

  "Widerrede auch noch", wunderte sie sich. "Mit Ihnen hat man nichts als Ärger."

  "Wer ungeladen auf fremden Partys erscheint hat seine Bürgerrechte verwirkt und darf sich nicht mal wundern", konterte er ungerührt. "Wer sind Sie überhaupt?"

  Toni klebte dem Frechdachs ein enormes Pflaster übers Auge. "Ihre neue Nachbarin." Sie schleuderte ihm einen grünen Laserblick zu und räusperte sich. "Sie wissen schon: das rothaarige Weib mit Pubertätskind und zwei Ponys."

  "Sorry, ich kann ohne Brille wenig erkennen", übertrieb er, um sie wegen ihrer mangelhaften Bekleidung nicht in Verlegenheit bringen, "und sah nur ein östlich geprägtes Pyjamaoberteil mit rotem Mop oben und unten zwei..." Er stockte, wie eine misstrauische Eule zu ihr hinäugend: "Sagten Sie eben Ponys?"

  "Und wenn?" hielt sie dagegen und fing ohne Antwort abzuwarten an, den Zimmerinhalt zu sortieren. Ein derartiges Durcheinander hatte sie lange nicht mehr erlebt, seit... hm, richtig, seit dem Sturm vor über fünfundzwanzig Jahren in der Nähe von Sydney, als ganze Bäume und Häuser vorbeigeflogen waren wie eben-auf'm-Kaffee. In dem Jahr hatte ihr Vater sie zum ersten Mal richtig ans Steuer seines alten Trucks gelassen - sein Teil des Paktes; Tonis Teil hatte darin bestanden, das Internat über sich ergehen zu lassen, während Tonis Mutter zu den sommerlichen Eskapaden von Vater und Tochter zu schweigen hatte...

  "Sitzengeblieben!" brüllte sie kernig, so oft er Anstalten machte sich zu erheben. Erst als alle Möbel richtig herum standen, fand sie seine Brille. Ein Triumphgeheul ausstoßend, stürzte sie zu dem zurückweichenden Mann, ihm behutsam das Gestell auf die Nase setzend. Die linke Seite war ohne Glas, die rechte hatte einen doppelten Sprung, doch er strahlte wie über den Nobelpreis. "Großartig, fühle mich wie neugeboren. Wenn Sie wüssten, wie ein Halbblinder sich ohne Brille fühlt, wie ein Fisch ohne Wasser... wie..."

  "Fangen Sie nicht auch mit dem Blödsinn an!" schnauzte seine bis dahin verträgliche Nachbarin.

  Denn nicht! gekränkt tat er, als würde es die launische, durch seine Brille verdreifachte Person nicht geben, die mit lockerer Hand seine Bücher einräumte: Schiller neben Darwin, Marx auf Volkslieder aus Litauen...

  "Ich hoffe", hatte sie ihren Ausfall offenbar schon vergessen, "die Wüteriche haben wenigstens umsonst gesucht, oder heißt es vergeblich?"

  Verständnislos schielte er zu den drei rothaarigen Frauen hin, die mit einer umfassenden Geste auf die wiederhergestellte Ordnung deuteten und ebenso synchron das Zimmer verließen, um mit drei Staubsaugern bewaffnet erneut in Aktion zu treten - in wenigen Minuten das schaffend, wozu er einige Stunden gebraucht hätte.

  "Sitzengeblieben!" schmetterte sie, sobald er sich rührte. Das schien ihr soviel Spaß zu machen, dass er ihr zu Gefallen öfters tat, als würde er - jetzt aber! - doch noch aufstehen. Endlich zufrieden, räumte sie das Putzzeug fort und erkundigte sich nach dem Standort seines Bettes.

  Seine Nasenflügel bebten. "Sie!" hielt er ihr einen moralischen Finger entgegen. "Nach so kurzer Bekanntschaft..."

  Sie spielte mit, wundervoll indignierte Augen zur Zimmerdecke rollend, auf dass diese sich auftue, den Schmutzfink zu verschlingen. Doch dann wurde sie energisch, ihm in sein Bett helfend und angenehme Träume wünschend.

  "Nein", murmelte er halb im Schlaf, eine verspätete Reaktion auf das Überstandene. Und, als ihr Gesicht sich zu einem Fragezeichen verzog: "Die Wüteriche haben nicht gefunden, was sie suchten." Er räusperte sich und setzte fast schüchtern hinzu: "Danke."

  "Das ist fein", war ihre Entgegnung, bevor sie endgültig aus seinem Blickfeld verschwand.

  Geraume Zeit lag er nur da und genoss seine warme, weiche Lage, träge überlegend, ob ihr letzter Satz der Erfolglosigkeit der Wüteriche oder seinem etwas aufgesetzten Dank gegolten hatte. Ihre Hilfe war selbstverständlich und ohne Getue erfolgt, beinahe hätte er es vergessen, doch seine gute Kinderstube hatte den Sieg davongetragen - hatte sie ihn deswegen gelobt? Er gähnte. Und wenn schon, für solch psychologische Finessen gab es geeigneteren Zeitpunkte, oder? Eben...

  Er schreckte hoch, als ihm einfiel, dass die Haustür nicht abgeschlossen war, eine Einladung an sämtliche Wüteriche. Er sollte aufstehen, aber ja, gleich. Ach was, noch mal kamen die gewiss nicht. Obwohl... man konnte nie... wissen... er... sollte... wirklich...

ende der leseprobe

background

"marke: solo" hat ca. 209 Seiten und war einige Wochen als E-Book erhältlich (man soll alles mal ausprobieren), zum Glück derart "überteuert", dass niemand es kaufte.... Nach der "Wende" und bevor das Arbeitsamt mir das Veröffentlichen untersagte, fand MS Interesse bei einem grossen Münchner Verlag deren Lektorin begeistert war - es war ihr aber zu viel Öko drin. Oh, keine Lachmaschine? Schöne Szenen mit Agent Orange (von der amerikanischen Armee tonnenweise in Deutschland "deponiert") wurden rausgeschnitten und sind rettungslos verloren. Unter anderem. Irgendwann hat man keine Lust mehr. Trotzdem, habe selten etwas mit so viel Vergnügen geschrieben und hoffe, das kommt rüber! Live geschrieben übrigens, direkt nach dem Fall der Mauer.
  Bin Aussteiger, bei Interesse bitte also nur Verleger mit einer Rechtsabteilung - brauchen wir zwecks Gründung einer Stiftung, danke.

saltener bits (1992)
leseprobe von nick jacobse


Beim Durchlesen von Saltener Bits (1992, ungefaehr 200 Seiten - geschrieben waehrend sich #Lichterketten durchs Land zogen) fiel (ausser dass die Formattierung sich wieder mal aufgehaengt hatte) auf, was uns zwar nicht wie heute mitten ins Gesicht springt, aber doch schon da war:
1) das Aufbaeumen gegen die Vollherrschaft des Autos,
2) die #Klimakrise bzw. Umweltverschmutzung & Verschwendung,
3) das Vorpreschen der #Vegetarier, durchs Billigessen befoerdert,
4) der Scheu vor Bits & Bytes (meine Mom, geboren 1920 in Jakarta, war 1972 eine der ersten, die eine Fortbildung machte - habe der Aufgeschlossenheit beider Eltern viel zu verdanken: insgesamt fuenf Ehen in drei Kontinenten) &
5) #Rechtsradikalismus sowieso, der haesslichste Synonym fuer Unzufriedenheit, die nach anderen schmeisst - wie viele Ismen. Grund genug die vier auf hexandthecity gezeigten Leseproben als Zeitreisen zu datieren - wuerde mich freuen, wenn ein engagierter Verlag (oder etwas komplett anderes - ask me: "heulmeisje/about me) inkl. Rechtsabteilung Lust hat, mit mir so etwas wie eine Stiftung zu gruenden.

Keine Panik, Saltener Bits ist dennoch ein Roman, geschrieben um (hoffentlich nicht nur mich selbst) zu unterhalten. Anbei eine Leseprobe, diesmal mittendrin.

Viel Spass und willkommen in Salten,

VII. lecksuche

Kurz bevor der Sommer seinen offiziellen Einzug hielt, belebte sich das Saltener Einerlei, der Lenz baeumte sich ein letztes Mal auf, und Ereignis folgte auf Missgeschick - zumal am Huf. Mit einem Einbruch fing es an. Spitzbuben hatten einen Amerikabesuch der Familie Brown-Korn ausgenuetzt, um bei Emma etwas "Klarschiff" zu machen, wie der Einbruchdezernatleiter, Ex-Mariner und Anhaenger des britischen Unterstatements, es formulierte und der Leere im Hause und Laden nicht gerecht wurde: von der riesigen Gefriertruhe, ueber Emma-Taschen bis zu Parmesankaese, Johns dicken Waelzen und dem alten nasenlosen Teddy von Sabine war den Taetern nichts zu klein oder schaebig, um nicht mitgenommen zu werden. Keine vierundzwanzig Stunden nach der Entdeckung durch Karin, die trotz einer beim Bockspringen zugezogenen Daumenzerrung das Blumengiessen uebernommen hatte, wurden die Diebesgueter bereits lokalisiert. Ein anonymer Anruf hatte Streifenbeamte zu einer Besichtigung der Sabue-Kellerraeume veranlasst, und in vier dieser Raeume waren sie tatsaechlich fuendig geworden. Dies erklaerte nicht nur, warum die Nachbarn nichts bemerkt hatten, sondern auch die Gruendlichkeit, mit der die Taeter hatten vorgehen koennen: einen ganzen Tag zur freien Verfuegung mit soviel Beleuchtung wie man sich nur wuenschen konnte, da die Rollos bei Brown-Korn allesamt laserdicht unten waren - wie praktisch.
Beim Durchchecken der gefundenen Gegenstaende wurde ein leerer Sack Zementmischung der Wird-schnell-trocken-Sorte mitsamt Kelle, Spachtel und aehnlichem Zubehoer gefunden. An und fuer sich nichts Weltbewegendes, liegt in fast jedem Haushalt griffbereit, bloss - hier hatte man es weder im Werkzeugkasten noch im Schrank, sondern in der Gefriertruhe zwischen Ente und Spinat gefunden - und im ganzen Haus fand sich keine einzige halbwegs frisch gespachtelte Stelle...

Der Heimkehr der Brown-Korns geriet entsprechend. Kaum dem Zug aus Hamburg entstiegen, legte sich eine amtliche Hand auf Johns Arm, ihn in aller Form zum Mitkommen aufs Praesidium auffordernd. Leider war die Strassen-Robin-Hood-Euphorie laengst im Fruehjahrsloch versunken, Saltens Revoluzzer stellten sich abwartend. Die Enttaeuschung darueber, dass es keiner von ihnen war, musste erst verkraftet werden, denn dass Isa es gewesen sein koennte, daran wollte niemand so recht glauben. Und doch begnuegte die Behoerde sich mit einem kurzen Verhoer, wie das? Immerhin handelte es sich um einen Akademiker, oho, um einen Amerikaner, aha, um einen Ehrenbuerger der Stadt Salten, ach so, wussten wir nicht, guten Abend, Professor Brown...

* * *

"Glaubst du, die hauen ab?" sprach Micha einen Gedanken aus, der einige beschaeftigten. Es sollte oberWelt, der sich nebenbei fragt, was aus einer seiner zahlreichen Freundinnen wohl geworden sein mag..
Ruth ging darauf ein und tat, als haette sie das leichte Kraechzen in seiner Stimme nicht gehoert und wuerde ueber ein dermatologisches Experiment in Australien nachdenken. Die Brown-Korns, geschockt ueber die Vorfalle, hatten nicht einmal ausgepackt, sondern waren unverrichterdinge zu Kornschen Verwandten in die Neuen Bundeslaender weitergefahren. Man munkelte, sie wuerden nicht wiederkommen...
"Nein", entschied Ruth endlich. "Isa ist aus dem Abhau-Alter heraus, und John war nie drin." Der Hackauflauf war im Ofen, die Familie verstaendigt, die Wartezeit nuetzte sie, um schnell einen Kuchen zu backen, erfreut ueber Michas Hilfe. Diesmal war der Kuchen fuer Karin, deren verkorkster Daumen in die Klappe des Lifts geraten war - ihr markiger Schrei hatte allen, die es gehoert hatten, eine Ganzkoerpergaensehaut beschert. Micha wuerde den Kuchen nach dem Essen rueberbringen, da Karin eine unerklaerliche Abneigung gegen Ruth hatte.
"Du nennst ihn John?" staunte er mit unverstellt junger Stimme.
"Was wundert dich daran?
"Paps waer's bestimmt nicht recht."
Sie warf ihm einen nachdenklichen Blick zu. Er sass mit einer Pobacke auf der Waschmaschine, einen sauber geleckten Holzloeffel in der Hand und das linke Bein solidarisch hin und herschwenkend in Gedanken an Bine.
"Ich glaube, ihr habt ein voellig falsches Bild von eurem Vater. Der ist gar nicht so."
"Wer ist gar nicht wie?" toente im naechsten Moment die Stimme des Vaters so taeuschend echt, dass beide herumfuehren.
Hereinschritt Bjoern, ein gewohnt breit ueberlegenes Grinsen in dem Vollmondgesicht. "Wenn dies ein Hollywood
"Dies ist aber kein Film", gab Micha patzig zurueck. "Deswegen heisst es: 'Man lauscht und schleicht nicht' und 'Du stoerst, piss off!"

Die Mutter dieser Streithaehne riss die Augen auf. Bis vor kurzem hatte ihr Juengster eine gesunde Zurueckhaltung vor dem bulligen Bruder an den Tag gelegt, war ihm aus dem Weg gegangen oder hatte wenigstens seine Zunge im Zaum gehalten. Seit einigen Tagen war diese Scheu immer mehr geschmolzen, eine Herausforderung Platz machend, die selbst den dickfelligen Bjoern stutzig machen musste.
"Wuerdest du bitte den Tisch decken?" stuerzte sie sich in bekannt hektischer Ach-Gott-ein-Streit-Manier kopfueber dazwischen.
"Habe ich bereits vor einer halben Stunde erledigt", entgegnete Michael tonlos, ohne den Blick von Bjoern zu loesen.
Der feixte. "Oho! Isser nicht lieb, unser Muttersoehnchen? Und eine Freundin hat er auch, wie ich hoere und staune. Soll unsrem Casanova die suesse kleine Mischlingsmaus abspenstig gemacht haben, deren Mutter unsere aergste Konkurrenz und deren Vater ein Verbrecher ist, sag bloss? Du machst uns Ehre, Bruderherz!"
Michas Gesicht hatte sich verfaerbt. "So ein Vater waere mir tausendmal lieber als ein verdammter Denunziant zum Bruder!"
Die Wirkung dieser Worte war sehenswert. Alles Blut schien aus Bjoerns feisten Wangen zu weichen. Eine kleine Ewigkeit verging. "Sieh an", brachte er schliesslich mit gezwungener Froehlichkeit hervor. "Denunziant, das Wort kennst du?" Er lachte auf. Zu laut. Zu lange. "Wetten, du hast keine Ahnung, was du daher redest?" Das Fragezeichen dahinter war wie ein Haken.
"So, hab ich nicht? Ich wuerde sagen, wenn jemand mit verstellter Stimme den genauen Standort eines gewissen Zementsackes plus Zubehoer verraet, als habe er es selber dort versteckt, dann ist er nicht bloss ein Denunziant, sondern ein Dieb, Luegner und verfluchter Lump obendrein!"
Die Zeit schien stillzustehen. Bjoerns Stiererei mit verbissener Entschlossenheit standhaltend, liess Micha sich von der Waschmaschine gleiten, sich breitbeinig vor dem Bruder aufbauend. Nach endlosen Sekunden wandte der Aeltere sich ab, irgendwas von einer wichtigen Verabredung vor sich murmelnd. "Wir sprechen uns noch, Bursche!" drohte er halbherzig. Und prallte in der Tuer mit Arnold zusammen. Blass standen Vater und Sohn sich gegenueber.
"Stimmt das?" holte Arnold seine Stimme von weit unten.
Bjoern wand sich. "Tuerlich nicht", entgegnete er trotzig. Doch die Augen wichen aus, bekamen etwas Fremdes wie die seiner Mutter, wenn sie eine ihrer seltenen Flunkereien losliess.
Ein Ader an Arnolds linker Schlaefe schwoll an, der zuverlaessige Vorbote eines echten Schmidsturms, blaeulich pochend und unheilverkuendend. Doch dann geschah es: fuer den Bruchteil einer Sekunde hob sich der Schleier, und Arnold sah alle so klar und deutlich vor sich wie lange nicht mehr: Bjoern, fahl, feist und geduckt, mit blutunterlaufenen Augen, die auswichen; Micha, der seinen Ivanhoe-Schild abgelegt hatte und in die hinterste Ecke zurueckgewichen war; und Ruth, seine geliebte Ruth, deren ebenmaessige Gesichtszuege seltsam vergraemt wirkten und zur Abwechslung ihr wahres Alter verrieten - und einiges mehr... Was war das? Tief, tief Luft holend, griff der Fleischer sich mit einer fast schuechternen Bewegung an die linke Brustseite und meinte dann heiser: "Lasst uns essen." Mehr nicht.

Die Stille lag wie eine dicke Wolldecke ueber dem Esszimmertisch. Selbst Ruth machte sich mit unziemlicher Hast daran, ihren Teller zu leeren, die Augen nach unten gerichtet. Nur Sunnyboy Thomas versuchte ahnungslos, die Stimmung mit ein paar Witzen zu lockern, bis Mathe ihn mit einem wuchtigen Tritt unterm Tisch zum Schweigen brachte. Kaum hatte der Vater genickt, verschwanden die Soehne mit nie dagewesener Lautlosigkeit von der Bildflaeche, um bis zum naechsten Morgen unsichtbar zu bleiben. Schweren Schrittes tat der Fleischer es ihnen nach und stieg in den Keller, um seine beruehmten Hufwuerste: Fleischwurstringe mit aparter Note fertigzustellen, waehrend Ruth die leere Etage nuetzte, um den Wohnzimmerschrank auszumisten.

Ein ruhiger Abend. Ruhiger als die Nacht. Der Fruehling, bis dahin vorwiegend heiss und trocken, schien kurz vor seinem Ende zeigen zu wollen, dass es ihn doch noch gab. Es blitzte und krachte nur so, und binnen weniger Minuten zog die vertrocknete Erde sich voll. Dieses Unwetter nuetzte eine vermummte Gestalt, sich eng an den Hauswaenden haltend, die Fusszone hinaufzuschleichen. Kurz nach Mitternacht gingen inmitten eines betaeubenden Grollens von oben saemtliche Lichter Saltens aus: Der Sommer war da.

Am Morgen danach fochten Salten und Sonne ein Wettstrahlen aus: Die Fachwerkhaeuser wirkten wie geschnitzt und frisch gemalt, die Strassen schillerten in allen Regenbogenfarben, die Pflanzen wetteiferten um das beste Gruen und die Buntheit der Bluetenwelt stach ins Auge, dass es wehtat. Nur einige Aeste und Papierfetzen erinnerten an einen Sturm, der grosse Teile Deutschlands unter Wasser gesetzt hatte, sodass die Saltener nicht ohne Schadenfreude aus dem Munde munterer Moderatoren des Fruehstuecksradios von Ueberschwemmungen in Bonn und anderswo erfuhren, sich diebisch ueber die leicht erhoehte, geschuetzte Lage ihres Nestes freuend und mit erhobenen Nasen und trockenen Fusses zur Arbeit stapfend: Ein schoener Tag, oho!
Der Anblick neuer Maulwurfprodukte auf den noch daempfenden Strassen liess manch trockener Fuss innehalten und dann verharren, bis sich aufgeregte Menschentrauben zu bilden begannen, die genau dieses schon immer vorausgesehen haben wollten, aber ge-nau so. Die Erhebungen waren nicht so akkurat ausgefuehrt worden wie sonst, in zwei Faellen haette man getrost von Pfusch sprechen koennen, wenn man den Mut dazu hatte und es in Kauf nahm, dafuer verbal gesteinigt zu werden: Auf die Absicht, allein auf die Absicht kam es hier an, und ueberhaupt, bei dem Wetter Konfektionsarbeit zu erwarten, das war... das war...!
Gespannt lauerten die Saltener auf eine Reaktion von oben. Man erwog die Aufstellung einer Buergerwehr, die nachts viertelstuendlich durch die Maulwurfstrassen patrouillieren sollte, um einer eventuellen Wiederholung der HaHaer Invasion abzuwehren und derlei mehr. Es brodelte. Diesmal, diesmal waren alle bereit, und oh, sie wuerden handeln! Der Buergermeister dieser Wehrbereiten tat desgleichen, wenn auch anders als erwartet. Einer unlaengst durchgefuehrten Umfrage zufolge lag Aeppie auf der Beliebtheitsskala ganz ganz unten, und der Schock hierueber hatte ihn zum Aeussersten getrieben: er hatte seine Frau um Rat gefragt. Das Ergebnis war eine offizielle Aktion Maulwurf, die bereits vorhandenen Huegel wurden korrigiert, verschoenert und hie und da durch Geschwister ergaenzt. Um diesem seltsamen Betragen die Krone aufzusetzen, begab Uns-Aeppie sich am selben Nachmittag mitsamt Ehegemahlin zum Bahnhof, um seinen Freund John Brown persoenlich abzuholen - ein ruehrender Anblick, der tags darauf nicht nur in den SaNews zu bewundern war. Keine Frage, dass die Anklage gegen den verdienten Mann in allen Punkten fallengelassen wurde. Man entschuldigte sich und sprach die Hoffnung aus, den Amerikaner am Abend in der Buergermeisterklause begruessen zu duerfen: nichts Besonders, nur ein paar nette Leute, die dem Ehrenbuerger unbedingt die Hand druecken wollten. Es blieb beim Wollen. Am Huf erfuhr Isa, dass ihre aelteste Freundin Ruth in aller Herrgottesfruehe mit Blaulicht ins Krankenhaus gefahren worden war, woraufhin das Haendeschuetteln zu Johns Erleichterung ausfiel. Geschockt eilte Isa ans Krankenbett Ruths, diese zwar ueberrumpelt und kopflos, aber voellig gesund im Spitalfoyer vorfindend. Die sanft-sensible Frau, die Isa in jungen Jahren wie eine zweite Mutter gewesen war, war am Morgen beim ersten Weckerrasseln erwacht - neben sich ein Mann, der sich nicht ruehrte. Das war alles, und wie Isa versicherte, nachdem sie Ruth vor Mitgefuehl halb zu Tode erdrueckt hatten: es reichte. Sie verliess das Krankenhaus erst, als der aelteste Schmidsohn, der sich auf ein wirres Telegramm hin in den erstbesten Zug heimwaerts gesetzt hatte, sie abloeste.

Der Sommer konnte kommen.

ende der leseprobe

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the icemakers (2008)
von nick jacobse
leseprobe

level I

  Elfjaehrig ist man noch Kind, waehrend ein Dreizehnjaehriger zu den Teenagers zaehlt - und dazwischen? Morgen war sein zwoelfter Geburtstag - noch Fragen? Durch neun Waende oder sechs Tuere - im Hause Bergmann waren Tuere vor allem zum Schliessen da - glaubte er das Getuschel der Eltern zu hoeren und zog die Bettdecke enger um sich: Szenenwechsel, bitte! Meist half das - und heute? Nja, die Eltern und die bloeden Geburtstagsbilder loesten sich wirklich auf, dafuer kamen Schulbilder, die genauso zerrten, zupften und piekten. Frustriert warf er die Decke von sich und tat, was er in solchen Faellen immer tat: er holte sein Geybey hervor, sein inoffizielles Geybey. Er hatte naemlich nicht nur Geybeyverbot, die Eltern hatten ihm das Ding mitsamt Spiele weggenommen:
  "Wir glauben bei dir ein gewisses Suchtverhalten bemerkt zu haben, Peter", hatte seine Mutter in vernuenftigem Tone versucht zu erklaeren. "Schau'n wir einfach, ob du ein Weilchen ohne auskommst, und dann..."
  Was sollte er machen? Sie waren am laengeren Hebel. Seit seine aeltere Schwester aus dem Nest geflogen war, funktionierte die Demokratie bei ihnen nicht mehr: zwei Erwachsene + ein Kind = Diktatur. Sich auf die Hinterbeine stellen hatte wenig Sinn, List war besser, also hatte er einem Kollegen dessen aeltere Version mitsamt Super-Xammy abgekauft. Leisten konnte er es sich, bekam genug Taschengeld und gab selten etwas aus: wofuer denn? Er war keine Naschkatze, hatte keine teure Hobbys und brauchte bloss den Mund aufmachen - schon wurde ihm das Gewuenschte reingestopft. Also gut: gestopft war uebertrieben, aber er bekam es, sofern es "zu seinem Alter passte" und ihm nicht schadete - eine Pumpgun haetten sie ihm kaum besorgt. Wie es in dem kleinen, regelmaessig aktualisierten Taschenbuch "Erziehung fuer Dummies" stand, das seit er denken konnte auf dem Nachtisch seiner Mutter lag und bei jedem Pups zu Rate gezogen wurde. Vor ein paar Tagen hatte er neugierig einen Blick reingeworfen, um zu erfahren, was ihm dieses Jahr so alles bevorstand. Und hatte das Buch beinahe fallen lassen, als er auf die Empfehlung stiess, sein nun erwachendes Interesse fuers andere Geschlecht als etwas Selbstverstaendliches hinzunehmen oder sich als Elternteil zumindest nichts anmerken zu lassen... - Gut zu wissen. Und zu viel Geybey oder Computer oder Fernsehen galt als schlecht, nicht empfehlenswert; gar keins war aber auch nicht optimal: "...eine Selbstverstaendlichkeit in der Handhabung saemtlicher Elektrogeraete auch der digitalen Branche ist erstrebenswert, gehoert in der heutigen Zeit zur Allgemeinbildung..." Aha. Wozu rumstreiten? Die Eltern waren happy, dass er nicht suechtig war und sich auch ohne Geybey zu beschaeftigen wusste und liessen ihn in Ruhe - mehr wollte er nicht. Ein schlechtes Gewissen hatte er dabei nicht: er war nicht suechtig. Er hatte nur sonst nichts zu tun und langweilte sich, und vor allem Xammy war inzwischen sein bester Freund, mit wem sollte er sich sonst unterhalten? Er gab sich redlich Muehe, das Ding nicht zu oft anzumachen und hatte sein Pensum eigentlich bereits ueberschritten, aber dies war ein Notfall: morgen war sein Geburtstag und ihm graute vor der Marathonlaechelei und sich freuen ueber Dinge, die er sich nicht gewuenscht hatte, auch gar nicht wollte. Vor dem engen unbequemen und nagelneuen Anzug, den er selbstverstaendlich nicht bekleckern duerfte, obwohl es bis zur naechsten feierlichen Gelegenheit bestimmt nicht mehr passte, sich abknutschen und bewundern lassen - Mann, dieser falsche Ton! - von Leuten, die er nicht mochte, weil sie so taten als wuerden sie ihn moegen, obwohl sie ihn doch gar nicht kannten! Sich staendig bedanken zu muessen: fuer nutzlose Geschenke, fuers Kommen, fuer die weite Reise, fuer den wuuunderschoeoeoenen Tag...brrrr...
  Warum konnten die Leute nicht ehrlich sein: "Mensch, Peter, frueher warst sooo niedlich - wieso unternimmst du nicht was gegen diesen potthaesslichen ekelerregenden Pickel auf deiner Nase, der aussieht wie ein verfaulter Kartoffelkaefer ohne Beine? ...Und deine Haare - kann man die ueberhaupt noch kaemmen, da muss ein Bunsenbrenner ran, odda?!" Er kicherte, sich wie ein Popstar in Pose werfend und ueber die unbaendigen mittellangen dunklen Haare streichend.
  Oder wenigstens ihn ehrlich sein lassen: "Mensch, bist du fett geworden - wer hat dich denn gemaestet und vor allem: warum?... Tante Bo, hat dir denn nie einer gesagt, dass nur Clowns soviel Schminke tragen?... Und du, hast dich ja ueberhaupt nicht veraendert, stinkst immer noch nach Oel und Unanstaendigkeit pur... oh, jessas, kannst nicht dein nach Knoblauch riechendes Sabbermaul abwischen, bevor du mich kuesst!?..."
  Und ueberhaupt, tagtaeglich diese Noetigungen, staendig zwang man ihn zu etwas: frueh aufstehen, frueh ins Bett, Dinge essen, die er nicht mochte, in die Schule gehen, Zimmer aufraeumen, Waschen und Zaehne putzen, Sport treiben...
  Und Geburtstagen.
  Genau, und die eigenen waren die schlimmsten! Sein Gewissen, dieses Untier, schien beruhigt: er schaltete das Geybey ein und war bald in eine andere schoenere Welt: Xammys Welt.

  Da passierte es.

  Klar redete er staendig dummes Zeug, wenn er spielte, meist halbe Saetze: Beweg deinen Hintern! Mach zu, Mann! och Xammy, baby...! In etwa. Machten alle. Na ja: viele. Doch diesmal hatte Xammy sich umgedreht, sich ihm zugewandt und
seinen
Namen
gerufen...
  Einbildung? Aber klar! Immerhin war er darueber so erschrocken, dass er das Geybey schleunigst wieder in die Matratze schob und den Reissverschluss zuzog wie um einen Fremkkoerper wegzusperren. Mensch, und an Schlaf war da erst recht nicht zu denken...

  "Happy Birthday to you, happy birthday...", wurde er wie jedes Jahr von den sehr froehlichen und sehr unmusikalischen Stimmen seiner Eltern geweckt. Peter behielt die Augen so lange wie moeglich geschlossen, war wohl doch eingenickt. Er brachte den Tag leidlich hinter sich, war froh, dass man seinen Ehrentag in der Schule uebersehen hatte und eilte nach Hause, bis ihm einfiel, dass seine Angehoerigen und deren Gaeste es gewiss nicht vergessen hatten: Nee, du...

  Als er abends endlich in seinem Bett lag, liessen ihn die Bilder trotz bleierner Muedigkeit nicht schlafen: stundenlange Heuchelei war eben Knochenarbeit. Und seine popelige Schwester, diese treulose Tomate, war wieder nicht gekommen; angeblich muesste sie dazu drei verschiedene Flugzeuge nehmen: "Gar nicht gut fuer die Umwelt, Bruderherz!" Alles klar. Beinahe widerwillig holte er das Geybey hervor. Und seufzte erleichtert, als nichts Ungewoehnliches passierte: Ein kleines Kerlchen namens Xammy rannte umher und sprang anderen auf den Kopf, dabei ununterbrochen kreischend als wuerde er gegrillt. Es hatte etwas Beruhigendes und war doch nicht langweilig: man drueckte diesen Knopf oder jene Taste unten, oben, rechts, links und konnte besiegen und aus dem Wege gehen nach Belieben. Niemand verlangte etwas von einem, niemand schimpfte, keine ungeduldigen Lehrern, keine lachlustigen daemlichen Kollegen. Und keine Eltern mit ihren ewigen: Wie war die Schule, Schatz? hast du dein Pausenbrot gegessen, moechtest du einen Apfel? warum bringst nicht mal einen Schulfreund mit, du weisst, wir haben nichts dagegen...?
  Was sollte er darauf antworten? Die Schule war beschissen, die olle MatheKuh hat mich heute dreimal dran genommen und ich bin wie immer ueber meine eigene Zunge gestolpert (und im Sport ueber die Fuesse), mein Pausenbrot haben welche in die Muelltonne geschmissen, ich habe keinen einzigen Freund und brauche auch keinen und weisst du, was du mit deinem bloeden Apfel kannst? Statt dessen nahm er den Apfel und verschwand damit in seinem Zimmer, irgendwas von Hausaufgaben und einer Pruefung murmelnd. Er konnte richtig spueren wie seine Mutter geruehrt hinter ihm her laechelte: mein Sohn, so ein fleissiger, lieber, so pflegeleicht und folgsam, huch...
  Pflichtschuldig erledigte er zuerst seine Aufgaben, um dann das Geybey einzuschalten. Mitten drin passierte es wieder: Xammy drehte sich zu ihm um.
  Und winkte.
  Und
  rief
  seinen
  Namen.
  Peter kniff die Augen sekundenlang zusammen, riss sie wieder auf: Xammy winkte immer noch, auf und ab springend wie ein Hampelmaennchen auf heissen Kohlen. "Guck nach vorne!" raunzte Peter verunsichert. "Da kommt was."
  Xammy grinste. "Na klar: Tim und Struppi, Super und Mann und Donald und Duck - du bist doch am Druecker, Peterboy."
  Erschrocken machte Peterboy den Xammyboy aus, sich wild im Zimmer nach einer Beschaeftigung umschauend, die nicht mit ihm sprach. Schliesslich warf er sich mit einem alten Karl-May-Buch aufs Bett. Keine halbe Stunde spaeter war das Geybey wieder eingeschaltet.
  "Was soll das?" kam es vorwurfsvoll. "Einfach tirolidiroli mich ausmachen ist nicht eben die feine Art. Was ist dein Problem, Mann?"
  "Mein Problem", kicherte Peter nervoes, "ist dass du mit mir sprichst. Das gibt es nur in schlechten Filmen!"
  "Nana", schuettelte Xammy den Kopf. "In ein paar guten Filmen wohl auch - was guckst fuern Schrott?"
  Das Kichern von Peter wurde fast hysterisch. "Ich bin verrueckt, toll zu wissen!"
  Der kleine Mann machte grosse Augen: "Verrueckt? Wie kommst darauf?" Und besorgt: "Ist das dein Ernst jetzt? Dann haett ich mich aber an den Filefolefalschen gewandt, wir haben naemlich ein ernstes Problem, verstehste, und da braucht man einen klaren Kopf und kein Wirriwarri mit Pusteparmesan in der Birne!"
  Von der eigenen Person abgelenkt, fragte Peter sofort: "Ein Problem, welches denn? Und wer ist 'wir'?"
  "Na, wir alle natuerlich!" erklaerte das Maennlein ungeduldig. "Aber ich weiss nicht, vielleicht bist du doch nicht der RiRaRichtige fuer diese Aufgabe...!"
  "Doch doch", widersprach Peter prompt. "Bin sowas von rirarichtig - was ist das Problem?"
  Das Maennchen liess sich nicht leicht ueberzeugen, rueckte aber schliesslich damit heraus, dass durch eine Reihe von nicht zusammenhaengenden Zufaellen ein Energiefeld freigesetzt worden war, deren Kraft ausreichte, um ganze Erdteile zu versorgen - oder ausser Betrieb zu setzen. "Ich selbst hab auch ein bisschen was abgekriegt, sonst koennte ich mich gar nicht so sisaselbstaendig machen. Und das Problem? Das Problem ist: wie und wohin sollen wir diese Energie ohne Schischascherbenhaufen leiten, bevor andere nicht so nette Leute wie du und ich und Tom und Jerry es finden und wasweissich damit anstellen - hab ich mich klar genug ausgedrueckt oder brauchst du 'nen Duden mit der neuen Deutschen Rechtschreibung und Gebrauchsanweisungen mit Bildern in zehn Sprachen?!"
  "Und dieses Energiefeld", drehte Peter skeptisch sein Geybey hin und her, "ist da drin?"
  "Pfff", machte Xammy veraechtlich. "Sooooooviel Energie in so einem PiwiDingelchen? Dann haette es laengst puff gemacht oder jemand gefunden. Es wurde ein wenig aufgeteilt und in den letzten paar Levels versteckt, und zwar so, dass keine Energie nach aussen dringt - ist dir klar, wie viele wollemolletitatolle Geybeys es auf der ganzen Welt gibt? Jetzt suchen ein paar geldige Blabberidioten wie bekloppt, sind aber zum Glueck noch nicht auf uns gekommen, sind ja eigentlich fuer Kids wie Pooh und du gedacht. Und bis zu den letzten Lilalevels schaffen es nur wenige - Erwachsene sowieso nicht, sind zu bloed dazu."

  Das war reichlich Stoff. Abends liess Peter sein Geybey in Ruhe, er musste nachdenken: Hatte er getraeumt, Halluzinationen gehabt? Und wenn nicht: wahr oder gesponnen? Und wenn wahr, was tun? Alleine war das nicht zu schaffen, er wuerde sich nach Verbuendeten umsehen muessen: wer sonst hatte ein Geybey, kam noch in Frage...? Und schlief darueber ein.
  "Sag mal", sprach er am naechsten Morgen Stefan an, den Kumpel aus der Parallelklasse an, dem er das Geybey abgekauft hatte.
  "Was ist?" hob der hoheitsvoll eine Braue. "Geybey kaputt? Nicht meine Schuld, wir hatten eine klare Abmachung wonach eindeutig..."
  "Stopp!" unterbrach Peter hastig. "Alles okay. Wollte nur was fragen, hast in der Pause Zeit?" Ohne eine Antwort abzuwarten, drehte er sich auf dem Absatz um und rannte beinahe ins Klassenzimmer zurueck: Was hatte er sich dabei gedacht? Lachte man nicht genug ueber ihn, ueber seine Haare, die gepflegten Klamotten, seine allzu hochdeutsche Aussprache? Und was sollte er dem Langen sagen: mein/dein Geybey hat sich selbstaendig gemacht und mich um Hilfe gebeten...? Hahahaha, schallte das Gelaechter ihm misstoenend in die Ohren: Phantasie ist etwas Fuerchterliches, wenn man zwoelf Jahre alt ist. ueberhaupt ein bloedes Alter, irgendwo zwischen Kindheit und Pubertaet im Niemandsland schwebend, mal mit einer Traene im Auge zurueck, mal schaudernd nach vorne schielend, und doch zum Nichtstun verurteilt ein nie enden wollendes Jahr lang, aetzend! Es muesste ein Taschenbuchratgeber geben fuer Zwoelfjaehrige, super duenn mit Index; darin stand etwa unter G wie:
"Geschlecht, andere: Sorry, aber in deinem Alter sollte man hoechstens schnuppern. Behandele das andere Geschlecht stets mit respektvoller Vorsicht aus mindestens zwei Meter Entfernung, es sei denn, es sind Verwandte, diesen wiederum gebuehrt respektlose Vorsicht aus mindestens drei Meter Entfernung."
  Er kicherte, setzte noch eins drauf:
"Und sei geduldig mit deinen Eltern, sie machen eine schwere Krise durch und sind leicht erregbar..."

  In der Pause versuchte er sich moeglichst klein und unsichtbar zu machen. Zwecklos, Stefan fand ihn:
  "Also?" machte der lange Lulatsch nur, die Arme in Abwehrhaltung uebereinander geschlagen. Stefan galt als Einzelgaenger, er war gross und sehr mager mit einem praktischen Borstenschnitt, drueckte sich seltsam abgehackt, altmodisch und barsch aus; die meisten Kollegen hatten Angst vor ihm und die Lehrer liessen ihn in Ruhe: wie beneidenswert war denn das?
  Was hatte er zu verlieren? Ebenso wortkarg packte Peter den Arm seines Gegenuebers und zog ihn vom Schulgelaende unter eine alte Eiche. Erst da holte er sein Geybey aus der Innentasche seines Mantels hervor und schaltete es ein.
  Und richtig, da war der kleine Mann und winkte und rief ihnen beiden zu. Beim Namen. Peter sah Stefan von der Seite an: "Dich kennt er also auch. Und?"
  Der schaute verunsichert zurueck. "Siehst du das etwa auch? ..."
  Als es schellte; waren sie sich einig.

* * *

  Den Rest besprachen sie auf dem Heimweg, mit soviel Energie Peters Zimmertuer hinter sich zuziehend, dass der Mund von Peters Mutter, den sie vor ueberraschung aufgelassen hatte, ganz von allein zuklappte.
  "Was glaubst du?" kam Peter sofort zur Sache.
  Stefan verstand sofort. "Ob Xammy aus freien Stuecken sich an uns gewandt hat oder ob das ein Teil des Programms ist oder ob das nachtraeglich von aussen reinmanipuliert wurde oder oder oder...? Tja", er rieb sich das Kinn, als erwaege er eine Rasur. "Das ist eine gute Frage. Eine andere Frage waere: wie finden wir heraus, wen er noch alles angesprochen hat, ohne uns bis zu unserem bitteren Ende sterblich zu blamieren? Mehr Koepfe bringen mehr Ideen hervor, und ein wenig Fussvolk ist auch nicht zu verachten." Sie verwarfen einen Plan nach dem anderen und schauten irritiert zur Tuer, als es klopfte.
  "Peter?" kam die Mutters Stimme gedaempft durch die Tuer: im Hause Bergmann wurde die Privatsphaere eines jeden respektiert. "Es ist sechs Uhr, moechte dein Freund vielleicht mit uns Abendbrot essen?"
  Sie sprangen gleichzeitig auf, und Stefan ergriff seine Siebensachen. "Ich geh lieber, meine Alten haben bestimmt schon einen Suchtrupp losgeschickt!" Stefans Vater war bei der Polizei. "Morgen nach der Schule wieder bei dir?" schlug er vor. "Meine Leute sind nicht so diskret - im Gegenteil".
  Peter grinste verstaendnisvoll. "Bis morgen also!"



level II

  Die Zeit oder Xammy draengte. Eine knappe Woche spaeter quetschten sich immerhin drei Kumpels in Peters Zimmer. Als die Bergmans vor knapp sieben Monaten hierher gezogen waren, hatte der Junge sich trotzig das kleinste Zimmer ausgesucht, obwohl die Eltern ihm das groesste mit Balkon, Einbauschrank und Waschecke mit Kusshand ueberlassen haetten. Seitdem musste jeder Besucher lange Erklaerungen ueber sich ergehen lassen, als haetten sie ihren einzigen Sohn in einen dunklen Kerker ohne Licht und Heizung gesperrt. Eltern waren schon ein komisches Voelkchen: Die Leute hinten, die Leute vorne - und in der Mitte? Schlafen, Essen, Schule. Punkt. Viel Spielraum blieb da nicht, das fing schon bei seinen Klamotten an: sobald eine Hose sich an den Knien beulte, musste es durch eine neue ersetzt werden - natuerlich Markenware, aber hal-lo. Peter wurde nicht einmal gefragt, na, wenigstens seine Haare wusste er zu verteidigten...

  "Also", fing er als Gastgeber an. "Ich schlage vor, wir hoeren auf mit der Mitgliedersuche und kommen endlich zur Sa..."
  Es klopfte und ein Rotschopf steckte den Kopf durch den Tuerspalt; Turbo, der Aelteste der Gruppe, stoehnte: "Ach Mensch, Dani: geschlossene Gesellschaft, Weiber unerwuenscht!"
  Dieses "Weib" wandte sich frech an Peter. "Wer sagt das - du etwa?"
  Der hatte Muehe nicht zu erroeten und bueckte sich, um seine bereits geknuepften Schuhbaender zuzumachen. "Aehm", nuschelte er betont forsch. "Wir koennen ja abstimmen: wer dagegen ist soll jetzt seine linke Hand heben oder sie fuer immer unten behalten - also?"
  Turbos Arm schoss in die Hoehe und er knurrte drohend in die Runde, doch er blieb der einzige. Jeder mochte Dani, sie war ein guter Kumpel und spielte sogar in der Fussballmannschaft mit.
  Jetzt rieb sie sich strahlend die Haende: "Antrag abgeschmettert! Also: was habt ihr bisher unternommen, Jungs?"
  Die 'Jungs' sahen sich ratlos an.
  "Schlage vor, wir befragen Xammy", kam es energisch vom Neuzugang.
  "Sieh einer an";, kreischte das Maennchen verzueckt beim Anblick der Gruppe: "Max, der Computerfreak, Turbo mit den Hummeln im Hintern, seine Schwester Dani, die Sportkanone, Stefan, der Supercop und Peter..." Die so Angesprochenen hatten alle der Reihe nach verlegen gegrinst und warteten nun gespannt auf Peters Beinamen - Peter auch: "...der Anfuehrer! Ich heisse euch alle willkommen in Xammyland! Mich kennt ihr ja wohl, ha!"
  Peter bueckte sich erneut nach seinen Schuhen: das Rotwerden war eine Plage, kam auf seiner Folterliste gleich nach Geburtstagen, Gefragtwerden vor versammelter Mannschaft und Turnen. Er schielte hoch, um zu sehen wie die anderen diese Auszeichnung aufnahmen - sicher mit Gelaechter? Doch die warteten nur gespannt auf Xammys naechste Worte:
  "Klub komplett also, nimmt bloss niemand mehr auf, ohne mich vorher zu fragen, kenne meine Pappnasen..."
  "Pappenheimer muss es heissen", korrigierte Turbo herablassend. "Also: was erwartest du von uns, wie koennen wir einfache Schueler seiner Hoheit King Xammy dienlich sein?";
  "Pack deine Hummeln und Heimer mitsamt King in die Kliklaklospuelung, Kumpel!" kreischte Xammy. "Unser Peter hat einen Plan!" Und weg war er.
  Peter hatte mitnichten einen Plan, er schuettelte irritiert sein Geybey und laechelte schief, als dabei nichts herauskam. "Aehm, Max, was hast unternommen: Software analysiert?"
  "Jupp", nickte ein Junge, der unscheinbar aussah, eine Hornbrille trug und etwas zu lange glatte schwarze Haare. "Hab's gesaugt und gruendlich untersucht - von innen leider nur der Anfang, ist schwierig."
  "Von innen, wie meinst du das?" wollte Dani neugierig wissen.
  "War im Spiel. Virtuell." Diese sehr ruhig vorgebrachte Behauptung liess vier Kiefer fallen.
  Endlich wiederholte Turbo papageienhaft: "Im Spiel?! Haeh?"
  Der eher kleine Max schien einige Zentimeter zu wachsen, dann meinte er laessig: "Exakt. Ihr wisst: mein Vater ist Programmierer, hat Software entwickelt, da kann man zum Beispiel mit einer Webcam virtuell in mehreren, leider nicht in allen Spielen rein schluepfen. Bei Xammy klappt's prima, wir klappern die Levels halt zu zweit ab. Macht mehr Spass."
  Sie sahen sich grossaeugig an.
  "Auf zu Max, Jungs!" trompetete Peter, um dann schnell hinzuzufuegen: "Und Dani natuerlich auch, klar."
  "Geht leider nicht", wehrte der bis dahin selbstbewusste PC-Profi verlegen ab. "Meine Mama vertraegt keinen Besuch und ich weiss nicht, sie kennt zwar Dani und Turbo, aber ihr andere und dann auf einmal, ich glaube, das wuerde sie ueberfordern..."
  "Wer hat noch einen Computer?" ueberbrueckte Peter die Verlegenheitspause.
  Niemand Hand hob sich.
  "Kannst Cam und Software rueberholen, Max?"
  "Jupp", kam es prompt und der Junge verschwand.
  "Okay", erhob der Gastgeber sich moeglichst laessig. "Bin gleich wieder da." Keine zwanzig Minuten spaeter kam Peters Vater mit einem Rechner, Peter selbst mit einem grossen Flachbildmonitor, und als Schlusslicht Peters Mutter hereinspaziert, Lautsprecher, Tastatur und Maus und einen Haufen Kabel auf einem riesigen Tablett.
  "Danke", meinte Peter sagen zu muessen, nachdem der Vater alles inklusive Onlinezugang korrekt angeschlossen hatte. Er starrte seine Eltern so lange an, bis sie brav zur Tuer trotteten.
  "Mensch", machte Dani zuerst den Mund auf. "Gibt's dafuer ein Patent? Meine sind nicht so gut erzogen."
  Peter grinste vielsagend. "Wir sind gegen meinen Willen umgezogen - seitdem haben die ein schlechtes Gewissen..."
  "Ja denn", klimperte Dani mit den Wimpern, wurde aber von einem Klopfen unterbrochen.
  Ohne viel Worte lud der zurueckgekehrte Max das Spiel, installierte die Software und schloss die Webcam an. Eifrig wollte er sich davor stellen.
  "Stopp!" hielt ihn Peter am aermel gepackt. "Erst die Absprache: wer geht? Und: wie bist du immer zurueckgekommen?"
  "Hatte den Timer programmiert, Webcam schaltet sich dann nach soundsoviel Zeit selbst aus", kam die prompte Antwort auf die zweite Frage; ueber die erste wurde kurz beraten und abgestimmt: Max und Stefan sollten zurueckbleiben. Max, um PC und Cam zu bedienen und Stefan, weil er nach eigener Aussage in einer Viertelstunde zu Hause erwartet wurde. Dringend.
  Fasziniert konnten die Auserwaehlten sich kurz spaeter selbst in Miniformat auf dem Monitor neben Xammy bestaunen.
  "'Beam me up, Scotty!' ginge gar nicht", versuchte Max ihnen zu erlaeutern. "Menschen bestehen zum groessten Teil aus Wasser und wuerden auch einzeln und verkleinert das Geraet sofort unter Wasser, also ausser Betrieb setzen."
  Es erwies sich als kniffelig, sich ausserhalb Xammys Welt so zu bewegen, dass man innerhalb gezielt vom Fleck kam, Dani hatte den Bogen am schnellsten heraus und deckte die anderen mit Anweisungen und Ratschlaegen zu. Die ersten Levels waren leicht, die Landschaft harmlos und auch etwas einfallslos: Taeler, Landwege, ein langweilig dahinplaetschernder Fluss, ein paar treudoofe, wiederkaeuende Kuehe, dann wurden die Doerfer groesser und groesser, bis sie sich in einer Grossstadt mitsamt Strassen, Hochhaeuser, Verkehrsknotenpunkte, Leuchtreklame und natuerlich jeder Menge Fahrzeuge und Menschen wiederfanden...
  Der Schwierigkeitsgrad steigerte sich, je weiter sie fortschritten. Es galt dann, etwas problematischere Huerden wie Erdloecher, verschuettete Taeler, endlose Seen oder voellig zugeschneite Gebirgen zu ueberwinden oder komplexe Wolkenkratzer, die oben und unten ins Nichts fuehrten. Oft musste man andere Figuren ausweichen: wandelnde Baeume, spuckende Sonnenblumen, unheimliche Geier und jede Menge Krabbelgetier und Fahrzeuge. Nach einer knappen Stunde waren alle schweissgebadet und Max speicherte das Erreichte und schaltete die Webcam aus. Sofort verschwanden ihre kleinen Ebenbilder vom Monitor.

ende der leseprobe

Background:

  Ich war sicher, etwas in der Art fuer meine Enkelkids geschrieben zu haben, konnte es aber nirgendwo finden und dachte (angesichts eines dank Quecksilber jahrelang andauernden Brainfogs nicht verwunderlich): fata morgana. Was man nicht weiss.... In den Umzugskartons aufm Dachboden fanden sich zwar etliche Kurzgeschichten, einige Gluecksradraetsel, mehrere Glossen (u.a. uebers Klonen, oi) und offenbar zwei (oder drei?!) Buecher, deren lose Blaetter mich nun wahnsinnig machen. Aber nichts fuer Kids.
  Fuendig wurde ich erst Wochen spaeter bei der Durchsicht meiner Musiksammlung, auf einer CD mit der Beschriftung: "Buecher, MS, JuBu" etc - JuBu = Jugendbuch, na logisch. Wann geschrieben? I dunno. Hier ein kleiner Hinweis fuer oekofreaks, nach einem Viertel erzaehlt eine der Hauptfiguren:

  "Habt ihr gestern die Nachrichten gehoert? Der Antarktis schmelzt langsam aber allmaehlich dahin,und es ist jetzt hundert Prozent erwiesen, dass wir Menschen am Klimawandel und den daraus folgenden Klimakatastrophen schuld sind. Wir haben ungefaehr dreizehn Jahre Zeit, unseren CO-2-Pegel in den Griff zu kriegen, sonst..."

Habe die Nachrichtenfolge nicht gefunden - es muss 2008 gewesen sein, die Begegnungstaetten und kleine Buechereien, die es waehrend der Kindheit meiner Toechter noch gab, existierten damals nicht mehr, und nicht jedes Kind hat(te) wg. der aus der oh so tuechtigen USA heruebergeschwappten Mobilitaetswelle noch Grosseltern in der Naehe.

Geschrieben fuer meine Enkelsoehne Silvio und Nico, aber auch in Erinnerung an meinen juengeren Bruder Peter, with love.

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gesiebtes brot 2015
(
leseprobe)

I. unique
joh

  Er hatte weder vor dem Tod noch vorm Fliegen Angst, fand sich nur zu jung zum Sterben. Spaeter vielleicht. Er wuerde darauf zurueckkommen.

  Der Online-Tsunami aus Rassismus, Oekologismus, Rechtsextremismus, Pazifismus und Wasnochallesismus, als er nach Infos ueber seine Traumfrau gesucht hatte, war unglaublich, jedes Ismus zusaetzlich mit Foren, Blogs und Chats ueberschwemmt - zwei mit Liliane Schnoor herself als deren Bademeister. Kein Wunder, dass er anfangs die Mitfahrzentralen uebersehen hatte.
  Nichts gegen Fortschritt: Computer, Smartphone & Co gehoerten dazu. Als Gebrauchsgegenstaende. Mit Abschaltknopf. Zu zweit ein Glaeschen Wein im urigen Cafe drei Strassen - oder Staedte - entfernt war ihm lieber als das anonyme Getippse in digitalen Chatcafes. Doch was sollte er machen, die Dame seiner Wahl war im normalen Leben nicht erreichbar.
  Selbst in die hiesige Universitaet hatte er sich gewagt. Nach stundenlangem Herumlungern in ueberfuellten und seltsam riechenden Gebaeuden hatten die bekannten Anfangstakte eines alten Kumpels namens Tinnitus ihn genoetigt, diese letzte Kontaktmoeglichkeit abzuhaken. Partys, Kino, Remmidemmi war naemlich bei ihr nicht drin. Nicht einmal Spaziergaenge. Eine sozial eingestellte und zurueckgezogen lebende Frau im heiratsfaehigen Alter, ohne Geldnot, ohne berufliche Angriffsflaechen und komplett ohne Verbindungen ausserhalb ihrer universitaeren und digitalen Welt - schlimmer: eine, die ihn nicht zur Kenntnis nahm. Und wenn, wuerde sie erfahren, dass er fuer alles stand, wogegen sie ankaempfte. Ihm war nicht zu helfen...
Wenn das Haus, in dem sie wohnte, nicht ihm gehoeren wuerde.

  An Schicksal glaubte er nicht, Madame Ironie hatte sich gewiss amuesiert: ausgerechnet Lilianes Engagement waehrend der Fluechtlingskrise hatte er, Norddeutscher Businessman des Jahres 2006, es zu verdanken, dass sie in das Haus am Saltener Platz eingezogen war. Erst spaeter war ihm droepchenweise klar geworden, warum sie ihr eigenes Zuhause vom Fitnesskeller bis zu den Gaesteraeumen im ausgebauten Dachboden nach und nach mit sechs Kommilitonen und vier Fluechtlingsfamilien gefuellt hatte: alle herumhopsend und in allen moeglichen Sprachen vor sich hinbrabbelnd, konnte er sich lebhaft vorstellen. Sofort hatte er sich das Kleingedruckte in ihrem Mietvertrag vorgeknoepft, das Bild der 68er-Kommune mit uebereinanderliegenden Menschen und Chaos im Hinterkopf. Ein halbes Jahr nach ihrer 'Oeffnung' hatte die eigene Verruchtheit sie dann offenbar eingeholt, und die Agentur, die dieses Irrenhaus buerokratisch geordnet hatte, beauftragt, einen adaequaten Wohnersatz fuer sie zu finden. Ein moderner Kuhhandel oder Service, um wenigstens den kleinen administrativen Daumen an wertvollen Immobilien kleben zu haben; Werbekugelschreiber den Stoffeln vom Lande - global war anders.
  Zufall oder Madame, genau diese Agentur hatte seit deren Gruendung die inoffizielle Hauptaufgabe, ihm, Johannes Schmid, den Ruecken frei zu halten. Er konnte sich nicht um alles kuemmern: Peanuts gerne, selbst knacken weniger. Gut so, unbesehen haette er die ledige Frau unbesehen unter irgendeiner Saltener Bruecke schlafen gelegt, Menschen dieser Kategorie pflegten unschuldige Vermieter mit Nachwuchs zu ueberraschen. Nicht gut fuers Inventar, und im eigenen Haus indiskutabel. Das kam noch hinzu, noch mehr Madame.
  Sein Geburtshaus hatte Erfahrung darin, einsame Singles zusammenzubringen, war quasi zu diesem Zweck errichtet worden. Sein alter Herr, eigentlich Brueckenbauer, hatte das Haus in jungen Jahren als Lockmittel entworfen: doppelstoeckig und vom feinsten mit zwei Luxuswohnungen auf jeder Etage inklusive Kamin und Balkon oder Terrasse und - Achtung, Clou: zwei voellig voneinander getrennten Eingaengen. Mit Schicksal und Co. hatte das wenig zu tun, darauf gab er genauso wenig wie sein Vater vor ihm, der das Haus nach dem Krieg direkt am Saltener Platz hochgezogen hatte, nachdem inoffiziell feststand, dass die Buecherei mitsamt attraktiver Leiterin nebenan einziehen wuerde. Glasklare Berechnung anstatt Magie also, sorry.
  Joh konnte sich nur verschwommen an das Ziel dieser Anstrengungen erinnern, hatte die Geschichte jaehrlich unterm Weihnachtsbaum von Oehmchen erzaehlt bekommen, einer resoluten Persoenlichkeit, eigen und freiheitsliebend wie ihre Tochter, die bereits eine wunderschoene Wohnung im benachbarten Hamburg besessen hatte. Ein Dach ueberm Kopf war demnach nicht der Koeder, ueberzeugt hatte sein Vater mit der Moeglichkeit, sich innerhalb einer Wohngemeinschaft zurueckziehen und doch zusammen sein zu koennen: ein Pseudo-Nest fuer unabhaengige Frauen, deren biologische Uhr anfing zu ticken. Entweder seine Mutter war etwas eigen oder der Ruf seines Vaters auf weniger konservativen Steinen gebaut als dessen Bruecken, laut Oehmchen hatte die Umworbene noch vor ihrem Einzug in das Haus am Saltener Platz auf einen notariellen Tausch beider Wohnungen bestanden; eine Transaktion, die offiziell in der hiesigen Zeitung bekannt gegeben worden war. Ganzseitig. Im Gegensatz zur Vermaehlung knappe zwei Jahre nach Johs Geburt, von der selbst seine Grosseltern erst nach dem Flugzeugabsturz erfahren hatten. Weibliche Eigenbroetelei und maennliche Traeumerei - nicht nur architektonisch perfekt umgesetzt.
  Fast perfekt. Das schoene Gebaeude war auf die Fundamente eines zerbombten Schlosses gesetzt worden, dessen denkmalgeschuetzte Kellerraeume eine undichte Stelle hatte, die dank Schraeglage den gesamten Regen des Saltener Platzes aufzusaugen schien. Alte europaeische Staedte und unterirdische Denkmal-Popups sind unzertrennlich, wie von alleine hochgerutscht tauchen historische Scherben auf, um flugs wieder versenkt zu werden, weil Dauer-Baustellen und Buerokratie die Euphorie Indianer-Jones-Anhaenger laengst skalpiert hatten, zusammen mit einem Staat, der auf alles Anspruch erhebt, was tiefer als ein Pflug liegt - Ueberbleibsel einer Zeit, als Koenige noch das Sagen hatten. Doris, eine sehr liebe, aehm, Bekannte von ihm und im Kulturbereich taetig, hatte sich nach horizontalen Freuden gelegentlich darueber mokiert, die Geschichtsforschung waere wesentlich weiter und die Museen ueberfuellt, wenn der Schwarzhandel nicht dank der gierigen Kurzsicht der Obrigkeit bluehen wuerde. Durch die Finanzkrise hatte sich die Lage verschlimmbessert, manch Antiquitaet war wertvoller als Lebensversicherung oder Bausparvertrag. Und sicherer. Dummerweise war die uralte Dienstbotenkueche im Keller voluminoeser als eine Scherbe, die sich unauffaellig zuschuetten oder verscheuern liess. Nicht nur bunkerdickes Gemaeuer und enge Oeffnungen machten eine Evakuierung der Kulturgueter schwierig; die gut erhaltenen mosaikartigen Steinteilchen in der noch dickeren Decke zwischen Haus und Keller - angeblich waehrend der Zeit Napoleons entstanden - hatte noch ein Sahnehaeubchen obendrauf gelegt. Fuer alles gab es ein Verfallsdatum oder Preis, nur der Denkmalschutz scherte sich weder um die Zeit noch das Geld anderer.
War das wieder verdorbenes kapitalistisches Denken oder eine troestliche Philosophie?
  Johs Vater hatte aus der Not eine Tugend zu machen versucht und die untere Wohnung, links, mitsamt poroesem Kellerboden auf der Sozialwohnungsbau-welle mitsegeln lassen, die das damals boomende Deutschland plus Steuererleichterungen und Subventionen fest im Griff hatte. Seitdem wurde es als Sozialwohnung hauptsaechlich von besser gestellten Studenten geschaetzt - und Johannes Schmid Senior erhielt weitere Pluspunkte von seiner sozial gepolten Frau.
  Eine Generation spaeter erwog Johannes Schmid Junior, durch einen Antrag auf Foerdergeld zur Daemmung unter Denkmalschutz stehender Gebaeuden noch eins draufzusetzen. Die undichte Stelle war mehr als laestig, und Sozialwohnungen nicht mehr zeitgemaess - dafuer liess es sich auf der Klimaschutzwelle gut segeln. Trotz Kopfschuetteln von Uta, einer anderen auch sehr lieben, aehm, Bekannten vom Bauamt, wuerde es sicherlich reichen, die Wohnung unten zu raeumen, die nach erfolgter Sanierung um ein vielfaches wertvoller sein wuerde. Oder?! Das staendige Herummurksen wegen dem Gemaeuer nervte, und die Deregulierungen, die im Sozial- und Finanzsystem im Gleichtakt alles platt gemacht hatten, waren letztendlich nicht auf seinem Mist gewachsen. Er war doch keine Milchkuh. Verdammt, neuerdings traten Geld und Macht offiziell als Paar auf: warum auch nicht, die mangelnde Empoerung war ohrenbetaeubend. Bald konnte jeder wie er wollte - vorausgesetzt, der Preis stimmte. Im Gegensatz zu vielen, die kraeftig von den Geistern profitierten, die niemand gerufen haben wollte, besass Joh Phantasie und ein wenig Weitblick, der ueber den naechsten Wahltermin hinausging: Was, wenn der immer groesser werdenden Gruppe von "Losern" aufging, dass sie nicht mitspielen mussten? Wenn die Win-win-Illusion, diese Sehnsuchtsblase, irgendwann doch noch zu den Gewinnern zu gehoeren, platzte und das ganze Spiel mit sich riss, weil es an Mitspielern fehlte? Game over, ups. Spiele wie Monopoly sind auf einen regen Kreislauf angewiesen - ohne fallen sie wie ein Kartenhaus in sich zusammen.
Wie Feuer, Krieg und Mobbing.
  Liliane mit Baulaerm zu verscheuchen ging natuerlich gar nicht. Allein der Gedanke, dass sie Woche fuer Woche direkt nebenan gegessen, gekocht und geschlafen hatte und er hatte nichts davon gewusst - was fuer eine Verschwendung! Seine Saltener Wohnung war ihm bislang blosse Zwischenstation gewesen, bestenfalls zweckmaessig moebliert; die Kueche hatte als Aufbewahrungsort von Getraenken und Fertiggerichten gedient fuer den Fall, dass er zu muede zum Weiterreisen war und einen Snack benoetigte. Frau Dahne, seine unsichtbare Haushaltshilfe, war mit Bettlaken und Kuehlschrank haeufiger in Beruehrung gekommen als er.
Bisher wohlgemerkt: war. Vergangenheitsform.
  Die Wohnung unter ihm wurde von seinem Grossvater besetzt gehalten, der mitsamt kuerzlich verstorbener Ehefrau Wohnrecht auf Lebenszeit hatte und nun ein wenig wunderlich wurde. In seiner Familie ueberlebten trotz Raucherei und ungesunder Ernaehrung die Maenner. Ob man das nicht irgendwie klonen konnte?
  Ein ausgepraegtes Selbstbewusstsein - oder Gleichgueltigkeit? - hatte ihn stets davor bewahrt, seine Besitztuemer wie Trophaeen an oeffentliche Pinnwaende zu haengen; was andere dachten, interessierte ihn nicht. Es waren Kapitalanlagen. Sicherheiten. Messbar. Im Grundbuch verewigt.
Real vor allem. Keine Lichterscheinung, die aus dem Nichts auftauchte, keine physikalische Taeuschung, die er verpasst haette, waere der eigene Eingang dank Renovierungsarbeiten nicht unpassierbar gewesen. Unpassierbar ausgerechnet wegen jenem poroesen Kellerboden, der unter der anderen Haushaelfte lag. Doch sonderbar eigentlich...
Danke trotz allem, Madame: Kaeffchen gefaellig?
  Ob es an der Wintersonne lag, die durch das grosse Fenster hereinflutete, oder am Treppenhaus, dessen hohe Waende goldgelb getuencht waren, selbst im Dunkeln Helligkeit vortaeuschend - der passende Rahmen fuer eine Gestalt, die nur aus Licht zu bestehen schien: helle Haarstraehnen, deren tiefer Goldton nach Copyright schrie, lugten unter einer zum Mantel passenden beigefarbenen Pudelmuetze hervor, dazu eine honigfarbene Haut, idealer Kontrast zu den dunklen Wimpern mit den imposant gebogenen gleichfarbigen Brauen darueber und den bernsteinfarbenen Augen, Augen, die unpersoenlich, beinah kalt ueber ihn hinweg zu scannen schienen: erfasst und - schwupps: Papierkorb. Autsch.
  Sie war eine Illusion, eine physikalisch-psychisch-mental-emotional-chemische Reaktion. Zur unrechten Zeit am unrichtigen Ort, war er kurz und unbeabsichtigt auf Empfang gewesen und... verloren!
Ein Businessplan musste her.
  Sich in den verschiedenen Gutmensch-Foren und Oekogruppen registrieren, von denen er keine Ahnung gehabt hatte: hatten die alle nichts zu tun? - war schnell erledigt, lange brauchte er nicht, um zu erfassen worauf es ankam. Knapp dreieinhalb Wochen spaeter war er seinen weissen Lamborghini los, eingetauscht gegen ein altes Hollandrad, das sich als rostfrei und fahrtauglich entpuppte, sobald er es stundenlang unterdrueckt vor sich hinfluchend vom Modder befreit hatte - direkt unter ihren rueckwaertigen Fenstern, deren Rollos stets unnahbar runterhingen. Es war der Hit in ihren virtuellen Kreisen - zwei Wochen lang hatte er zuerst triumphierend, dann erwartungsvoll, und zu guter Letzt nur noch resigniert auf Feedback vom toskanischen Eisblock nebenan gewartet. Seitdem fuhr er Fahrrad.
  Er uebertrieb? Achtunddreissig Jahre hatte er keine Ahnung gehabt, wie es ist, sich restlos ausgeliefert, himmelhoch jauchzend und zutiefst ungluecklich zu fuehlen - alles auf einmal. In ihrer Gegenwart spuerte er jeden Herzschlag, die Luft schien langsam und gleichzeitig schnell aus seinen Lungen zu stroemen, ach was: zu vibrieren, den Rueckweg merkte er gar nicht - oder war es umgekehrt? Allein die Vorstellung, sie direkt nebenan zu wissen, liess seine Haare millionenfach am ganzen Koerper zu Berge stehen, von einer kuehlen Brise bewegt, die etwas Elektrisches hatte. Er bebte, er lebte, verdammt. Was sollte er sonst tun, nochmal achtunddreissig Jahre den Oetzi machen?
War bloss ein Auto.

  Als "Muenster des Hohen Nordens" hatte das Staedtchen Salten einen Ruf zu verlieren. Trotz hanseatischem Getroete, die Sportlichkeit oder das Umweltdenken der luetten Nachbarn waere unecht, und die vor Jahrzehnten angefangene Verkehrsberuhigung deren Angst zuzuschreiben, von Hamburg verschluckt zu werden, von einer Metropole, die bereits Globalisierung betrieben hatte, als das noch ein anstaendiges Wort war.
  Warum auch immer, der Infrastruktur war es nicht bekommen - weder hin, noch zurueck. Insbesondere den Strassen nicht; Straeucher, Asphaltbeulen, Baeume, Blumenbeete und andere Hindernisse erschwerten nicht nur den Rasern aus Hamburg ein flottes Durchfahren, Einheimische liessen ihr Auto am Stadtrand und nahmen die hiesigen kostenlosen Mini-Elektrotaxis; Saltens Feuerwehr- und Muellwagen waren die kleinsten in Deutschland, und wurden regelmaessig von umliegenden Ortschaften ausgeliehen - enge Strassen gab es ueberall. Selbst die Zuege fuhren selten und unregelmaessig - die Nachfrage war zu gering. Da war sie wieder, die typisch Saltener brauchen-wir-nicht Dickkoepfigkeit. Keine guten Voraussetzungen fuer einen Globetrotter ohne fahrbaren Untersatz, der eine Karriere am Wall Street in die Tonne gekickt hatte, um nicht fliegen zu muessen. In Bahnhofshallen oder Bussen kampieren war auch nicht seins, trotz Einladung eines Billig-Busverkehrs, der sich neuerdings kreuz und quer durch ganz Europa breit machte. Noch ein Ismus oder wie-dem-auch-sei-Bus, und selbstverstaendlich in Saltens Strassen unwillkommen, zu hoch, zu breit, zu unkatalysiert, zu whatever: Brauchen wir nicht, wech damit. Nur mit "Billig!" im Gepaeck rannte man in Salten keine Tuere ein.
  Die staendige Sucherei nach einer Kontaktmoeglichkeit, einem gemeinsamen Nenner, Freund, Hobby, irgend etwas, hatte zu nichts gefuehrt, bis seine jaehlings eingeschraenkte Mobilitaet ihn mit der Nase auf eine erstklassige Option fast platt drueckte: von einer der grossen Mitfahrzentralen starrte ihm unversehens ihr ernstes Gesicht als eins der wenigen in Salten ansaessigen Mitglieder entgegen. Zwar ein altes und schlechtes Foto, das mehr verbarg als zeigte, aber er hatte sie sofort wieder erkannt. Jeden Monat liess Liliane Schnoor sich abwechselnd von zwoelf Fahrern durch halb Deutschland und/oder zurueck kutschieren.
Heureka. Ma-dame!
  Einige Klicks spaeter hatte das heckige Dutzend eine Blankokarte der Deutschen Bahn im Mailbox, gueltig sechs Monaten lang innerhalb Deutschlands.
Dann waren es neun.
  Ein seltsames Voelkchen, die Deutschen. Einerseits Weltmeister im Trennen von Muell, und Atomaussteiger der ersten Stunde, andrerseits besassen nirgends Autofahrer soviel Ellenbogenfreiheit; Nachhaltigkeit und Umweltfreundlichkeit wurden zu toenernen Worthuelsen, wenn es ums Auto ging. Irgendein Spielzeug braucht jeder, erhoehte Joh ungeruehrt auf ein Jahr in ganz Europa, first class, und obwohl seine Bemuehungen scheiterten, das Rauchverbot der Deutschen Bahn auszuhebeln: fueueuenf, viiiier, dann irgendwann drei...
  Bevor der Abstossrausch ihn im Schwitzkasten hatte, ein alter Begleiter gelegentlicher Abstecher an der Boerse, zog er die Notbremse, sich rechtzeitig erinnernd, dass er kein Auto mehr hatte. Und ob es gut aussah, sich als taufrischer Radfahrer und registrierter Oekofreak ohne Punkt und Komma eine neue Welt auf vier Raedern zuzulegen, nur um es ihr zu Fuessen legen zu koennen...? Hm. Glaubwuerdigkeit war anders. Und es bestand die Moeglichkeit, dass Liliane die Deutsche Bahn ihm vorzog. Nicht wahrscheinlich, aber moeglich.
Vage moeglich.
  Egal, drei war uebersichtlich. Er musste nur achtgeben, dass sich keine neuen einfanden. Nach einer Durchsicht der Dateien auf ihrem komplett ungesicherten Computer - Leichtsinn pur, wuerde er ihr irgendwann abgewoehnen muessen - haetten zwei der drei Wuerstchen ihr Vater sein koennen, und das dritte war sicherlich potthaesslich, ein Idiot oder noch nicht trocken hinter den Ohren. Oder?!
  Der Output der Suchmaschinen zum Trio, ueberhaupt die Namen und E-Mail-Adressen aller Fahrer, die sich in der Mitfahrzentrale keine Daten-Bloesse gegeben hatten, war duerftig und hatte er durchs Hacken in eins ihrer Online-Postfaecher rausmelken muessen. Was war das: kleine Wiedergeburt vom Philosoph Kant im Schatten vom Big Brother, oder defekte Suchmaschinen? Er tippte den eigenen Namen ins Suchfenster und hatte nach einem Augenaufschlag ein paar hundert Seiten Unfug ueber sich. Beim Trio hatten saemtliche Suchmaschinen nur ein paar Artikeln ueber einen der Oldies, einen leibhaftigen Bigamisten - ob ihr das bekannt war? - ausgespuckt. Sonst nichts. Null Information gab es zum mysterioesen Dritten im Bunde, dessen Sicherheitseinstellungen wasserdicht waren, selbst die an Liliane adressierten Mails erwiesen sich als unleserlich, also einwandfrei verschluesselt. Liliane war weniger vorsichtig, ihre uebrigens bestenfalls freundschaftlich gehaltenen Antworten verrieten immerhin wie er hiess: Patrick W. Otto.
Nach einem Pseudonym klang das nicht: tschakka, baby!
  Richtig fuendig wurde Joh erst nachdem er ein Drittel aller IT-Business-Plattformen abgegrast hatte in der Annahme, es mit einem PC-Profi zu tun zu haben: in einem der kleinen war ein Patrick Werner Otto registriert, wohnhaft in Salten. Volltreffer und versenkt. Wenn der Windhund sich Liliane unter einem falschen Namen genaehert haette, waeren Johs Chancen, ihn jemals zu identifizieren, gleich Null gewesen.
Jeder macht Fehler.
  Von da an war es ein Kinderspiel. Der Bursche machte Eigenwerbung auf Deubel komm raus, seine Lieblingsidee eines 3D-Spiels kam aber nicht an - gab einfach zu viele. Hm, Beziehungen spielen lassen, um ihn nach Amerika zu koedern? Dahin wollten die Nerds doch alle, anstatt hier ein autarkes europaeisches Gegengewicht zu schaffen. Schoen bloed. Schnell entdeckte er ein paar Start-ups und einen Kunden, der auf Datenschutz weniger Wert legte und einiges in einem ungesicherten Cloud archiviert hatte.
Halleluja.
  Merkwuerdig eigentlich, in den meisten Mitfahrzentralen mussten sich alle registrieren - warum dieser Patrick Otto nicht - wie war das moeglich? Joh durchforstete den Cloud und klatschte sich mit der flachen Hand an die Stirn: Saltener Platz 8 - die Sucherei haette er sich sparen koennen! Mr. Topsecret wohnte links, unten in der sogenannten Sozialwohnung, teilte sich also den Eingang mit Liliane und hatte sie gewiss im Treppenhaus kennengelernt wie er selbst - wobei der Schlingel sich garantiert geschickter angestellt hatte. Dies erklaerte nicht nur den Umweg von fast fuenfundzwanzig Kilometer am anderen Ende der Strecke, den Patrick Otto offenbar jedes Mal in Kauf nahm, sondern auch, warum er einen Echtnamen angegeben hatte, in seinem Metier kein Usus. Nicht wirklich. Neugierig checkte Joh die Videoaufnahmen der zwei Security-Cams, die er am gleichen Tage seines illuminierten Nichtzusammenstosses mit Liliane im Treppenhaus hatte anbringen lassen, und beschloss, zuallererst Patrick rauszuschmeissen, aehm: auszuladen. Der Mensch war jung und sah nicht uebel aus, wenn man auf Aeusserlichkeiten gab: eine Art Redford/Cruise-Verschnitt in Jung. Shit.
  Wo hatte er den Antrag zur Sanierung des Kellers hingelegt, wo waren die Bauplaene, die sein alter Herr noch eigenhaendig gezeichnet hatte? Unlaengst war ihm die Moeglichkeit durch den Kopf gegangen, die Ausbesserung von aussen, also von der Fussgaengerzone bzw. Marktplatz anzugehen, also erst dort buddeln und dann seitlich in den Keller, sozusagen dem Regenwasser hinterher. Ein Jammer, dass er Uta nicht fragen konnte, sie wuerde fuer seine derzeitige sexuelle Enthaltsamkeit wenig Verstaendnis haben. Man koennte Saltens Kulturheinis zur Kooperation kitzeln, das hiesige Museum lag im rechten Fluegel des Saltener Hufes; alle paar Monaten erhielt er herzerweichende Bettelbriefe vor allem wegen den riesigen Kupferkesseln. Was gab es noch zu bedenken: Verkehrsbehinderungen? Der Saltener Platz war ein Marktplatz von der Groesse eines halben Fussballplatzes und gehoerte zur Fussgaengerzone am Huf. Im Wechsel mit den beiden anderen Fussgaengerzonen gab es dort Wochenmarkt mit in Babywannen schwimmenden Fischen und regionalen Lebensmitteln, Verkehr war also so gut wie nicht vorhanden - er haette nie gedacht, dass er sich mal ueber Saltens Verkehrsberuhigung freuen wuerde.
  Die Lieblingsbeschaeftigung fast aller seine Freundinnen war es gewesen, ihn zu verkuppeln, mit allem drum und dran unter die Haube zu bringen nach dem Motto "mitgefangen, mitgehangen" - ob er es doch mit Uta riskierte, ihr sozusagen seine rosafarbene Karten auf den Tisch legte? Sie wuerde in dem Fall helfen wollen. Die grosse Frage war doch: reichte die Evakuierung der unteren Wohnung? Die Verbindung zwischen den beiden Treppenhaeusern war auf seine Veranlassung hin gleich nach Fertigstellung der Sanierungsarbeiten korrekt verschlossen worden - er war wieder mal ueber die eigene Ehrlichkeit gestolpert - und muesste dann erneut geoeffnet werden. Zwei Fliegen mit einer Klappe: Liliane muesste den anderen - seinen - Eingang nehmen, und der Patrick Dings waere weg vom Fenster. Andrerseits wuerde der Luemmel dann irgendwo hinziehen, wo er ihn nicht laenger im Auge hatte. Und somit evtl. auch Liliane. Nicht gut. Konnte man sich darauf verlassen, dass sie trotz Verschlossenheit nicht auf den reinfiel oder reingefallen war, war diese Unterkuehltheit ueberhaupt echt oder war sie traumatisiert wegen dem, aehm, Missgeschick ihres Vaters? Er hatte einige ihrer ehemaligen Lehrer und Mitschueler unauffaellig und anonym im Rahmen einer fingierter Umfrage ueber sie auszuquetschen versucht. Und nichts erfahren.
Die Frau trieb ihn noch in den Wahnsinn. Herrlich!
  Zu guter Letzt veranlasste er das Dezimieren der Suchergebnisse zur eigenen Person und tippte seinen Namen erneut ein: knapp dreieinhalb Seiten Bloedsinn. Geht doch. Weniger waere unglaubwuerdig. Seiner Traumfrau irgendwann stotternd irgendwelche Leichen erklaeren zu muessen, hielt er fuer unter seiner Wuerde - lieber drapierte er die Zombies von vornherein so, dass sie appetitlich oder wenigstens nachvollziehbar aussahen. Er war zwar ein guter Pokerspieler, aber ein miserabler Luegner und sah auch die Notwendigkeit nicht ein, herumzuflunkern: er war wie er war wie er war wie er war. Und so gedachte er zu bleiben.
  Blieb noch der fuer ihn schwierigste Teil: wie eine fette Spinne darauf lauern, wer sich wann wohin und weswegen bewegte und auf eine Gelegenheit warten, eins seiner Spinnenbeine in eins ihrer Mitfahrtrips zu schieben. Bis dahin versuchte er, die nicht-aktivistischen Informationen ueber Liliane zu ordnen und auszuwerten; den virtuellen Gutmenschkram hatte er abgehakt, nachdem er ein gewisses Muster heraus gefiltert hatte - darin war er Weltmeister. Abgesehen von den ueblichen Schuleintraegen und ihren ersten offenbar fuer sie unbefriedigenden beruflichen Schritten im sozialen Bereich, war die einzige Ausbeute zu ihrer Person der Autounfall ihres Vaters, der jemanden ueber den Haufen gefahren hatte.
Heftig.
  Er kannte die Berichte darueber und alles drumherum inzwischen auswendig, da es die einzig wirklich aussagekraeftige Information war. Es klang mysterioes und verschaffte ihm nicht nur Gaensehaut, sondern darueber hinaus ein angenehmes Zusammengehoerigkeitsgefuehl - durch einen anderen Crash war er mit vier Jahren Vollwaise geworden. Das froehliche und letzte Winken seiner Eltern, als sie im Flieger nach Kanada verschwanden, war in seinem Hinterkopf genauso gespeichert wie die Elite-Internate in ganz Europa in den Folgejahren, nur unterbrochen durch Ferienaufenthalten bei den Grosseltern am Saltener Platz. Nach einem passablen Schulabgang hatte er sich durch die oberen Etagen etlicher Managements geboxt und fuehrte seit fast sechs Jahren ein sorgenfreies und selbstaendiges Geschaefts- und Privatleben mit kleinen Abstechern in sonnigen Gefilden. Seine Freizeit war gespickt mit gelegentlichen Weekend-Parties, woraus sich ebenso gelegentliche Affaeren ergaben, vorwiegend mit verheirateten Frauen - sie waren pflegeleichter. Er war sein eigener Herr.
Das war es. Es war ein spannendes, interessantes Leben ohne Langeweile und Reue gewesen - ein Leben, das er dabei war, nach und nach auseinanderzunehmen. Mit dem groessten Vergnuegen, fast genuesslich auseinanderzunehmen. Ein Mann muss Prioritaeten setzen, wenn es die Umstaende erforderten. Ausserdem hatte er, streng genommen, genug beiseite gelegt, es wurde Zeit, ein Nest zu bauen. Ja. Auch er. Und was sein Vater, fuer den er diesbezueglich bis vor kurzem wenig Verstaendnis hatte aufbringen koennen, vor vier Dekaden gelungen war, konnte er mit links.
Aber hal-lo.

II. eine kleine bigamie
phil & so


  "Du erinnerst mich irgendwie an meine erste Liebe.";
  "Echt?" hatte Liliane eine Braue gehoben. "Wenn du es schaffst, in meiner Gegenwart alle Assoziationen dazu fuer dich zu behalten, koennten wir uns verstehen..."
  Dies waren nicht ihre ersten Saetzen miteinander, aber praegend. Zwar hatte Phil ein reines Gewissen, es war keine Anmache gewesen: was dachte das Kind von ihm? Aber deswegen die beleidigte Leberwurst spielen? Kindisch, zeitraubend und schlecht fuer den Blutdruck. Machte ausserdem Falten, die auf natuerlichem Wege nicht mehr verschwanden. In seinem Alter nicht irrelevant.

  Verschwunden waren dafuer die goldene Zeiten, als man die eigenen Geschaefte einer unsichtbaren ehrlichen Haut namens Bank ueberlassen und sein Leben leben konnte, ohne staendig nach den Boersennachrichten schielen zu muessen. Vertrauen war eine gute Sache. Immer noch. Gut fuer die Freundschaft, gut fuer Partnerschaften und Beziehungen, gut fuer die Seele. Empfehlenswert also. Eigentlich. Veraendert hatte sich "bloss" das Geld oder vielmehr dessen Bedeutung vom schlichten Tauschmittel zum 'Schein-Gott', Religion und Staat verwaessernd bis zur Unsichtbarkeit - nur gut, dass er sich als agnostischer Weltbuerger auf alle drei nie verlassen hatte. Spaetestens seit Anfang der Finanzkrise zuckelte er nicht zuletzt deswegen die fuenfhundert Kilometer von seiner Wahlheimat Hamburg zur neuen Goetzenmetropole Frankfurt und zurueck, um persoenlich nach seinen Projekten zu schauen - ab und zu angenehme und halbwegs intelligente Gesellschaft waehrend der Fahrt war alles, was er sich gewuenscht hatte. Voraussetzungen, die Liliane muehelos erfuellte.
  Seit ihrer ersten gemeinsamen Fahrt fuhr Phil alle paar Monaten den kleinen Umweg ueber Salten, geduldig in seinem alten, dafuer bequemen Buick am Saltener Platz oder vorm Sanatorium auf sie wartend - je nachdem, ob sie die Hin- oder die Rueckfahrt gebucht hatte. Die Saltener Hilfspolizisten, HiPos genannt, hatte er bisher mit Charme, Logik, Pralinen und vor allem Gartenarbeit davon abhalten koennen, sein verkehrswidriges Warten zu ahnden, im Kofferraum nebst Pralinen und exotischem Gewaechs ein paar Gartenhandschuhe, die er sich ueberzog, bevor er sich daran machte, eine der gruenen Inseln am Saltener Platz zu verschoenern. Lange genug hatte es gedauert, im Saltener Labyrinth aus Baeumen, Blumenbeeten und anderen Hindernissen einen Weg hierher zu finden, obwohl der zum Elektrofahrzeug umgebauten Oldtimer einer der schmalsten und kleinsten seiner Sorte war.
  Vor dem Ausbruch einer Art Run auf die Bahn unter Lilianes Fahrern, der einen nach dem anderen von deren Chauffeuren-Karussell springen liess, hatte seine Fahrbeteiligung aktuell bei einmal alle zwei Monaten hin oder zurueck gelegen, hinten mindestens ein Mitfahrer, damit sie sich nicht erneut das huebsche Koepfchen ueber seinen Single-Status zerbrechen musste.
  Ihm war es Recht. An Gespraechsstoff mangelte es ihnen nie, er verstand sich gut mit dem Maedel mitsamt erhobener Augenbraue oder zwei. Gesellschaftlich, politisch und pseudo-wissenschaftlich lagen sie auf dem gleichen Level, nur philosophisch und ethisch drifteten sie manches Mal auseinander. Was auch seinen Reiz hatte. Seit einer der Mitfahrer das Thema Ehe angeschnitten hatte, war seine treffliche Eignung als polygamische Fallstudie hinzu gekommen. Schamgefuehl kannte er nicht, schon gar nicht, was seine Ehen betraf - warum auch? Das von der Anklage sowie Staatsanwaltschaft nicht durchgesetzte und, wie er fand, ungerechtfertigt hohe Strafmass wegen Bigamie war dank Unbescholtenheit, Sesshaftigkeit und mangelnder kriminalistischen Energie zu einer Bewaehrungsstrafe versickert und schreckte sie nicht ab. Im Gegenteil.
  Das Phaenomen kannte er. "Seine kleinen Bigamien", wie er sie provokativ nannte, erregten meistens eine Mischung aus Scheu, Neid und Neugier, die zu befriedigen er nicht abgeneigt war: why not? Im Gegensatz zur ueblichen Sensationsgier, war Lilianes Interesse dezent, fast beruflich. Mit offenem Mund hatte sie ihn nie angegafft. Perfekt.

ende der leseprobe



Kurz-Biographie & Alibis

  Bin in NL geboren und in den Staaten aufgewachsen; der Aufenthalt in drei verschiedenen Laendern ermoeglicht eine aufgeschlossene und anti-nationalistische Sichtweise, die verbindet anstatt zu trennen - meiner Meiniung nach. Erst nach etlichen Jahren K(r)ampf gegen buerokratische Windmuehlen im Niemandsland (im Geburtsland fuer tot erklaert, siehe 'das heulmeisje und ich) erhielt ich meine alte NLer Identitaet als Jacobse wieder. Die Schizophrenie dieser zwei Identitaeten macht sich hoffentlich im Buch nicht allzu breit und ist einer der Gruende, warum es keine Publikationen gibt.

  "gesiebtes brot" ist entstanden in zwei der schoensten Staedten der Welt - die Pendelei zwischen Luebeck und Utrecht via Mitfahrzentrale & Bahn war notwendig und wird im Buch entsprechend sichtbar, nachdem der Elektroscooter meiner damals 95jaehrigen Mutter nach einem tollkuehnen Ausweichmanoever per Salto deren Knie zertruemmerte. Sie starb im letzten Fruehjahr mit 98, dement.
  Das Buch schrieb sich also von alleine, ich musste nur lauschen, koennte ich daher behaupten, wenn mein Gehirn ordentlich mitgespielt haette. Aber das ist eine andere Geschichte.



Exposé & Co

  "Er hatte weder vor dem Tod noch vorm Fliegen Angst, fand sich nur zu jung zum Sterben. Spaeter vielleicht. Er wuerde darauf zurueckkommen", endet die Geschichte fast genauso wie es anfaengt.
  Dazwischen pendeln vier Personen waehrend und nach der Fluechtlingskrise einmal im Monat die jeweils fast fuenfhundert Kilometer zwischen Salten (fiktivem Staedtchen in der Naehe von Hamburg) und Frankfurt a.d. ueblichen Fluss: mittags hin, abends zurueck.

  Das Quartett besteht aus vier Welten oder meinetwegen Perspektiven: drei Maennern und einer Frau.

Phil, Hamburger mit Englischem Pass, gelangweilter Privatier jenseits der 50, der gern mit Episoden seiner nicht immer gueltigen Ehen unterhaelt, die sich wie ein roter Faden und emanzipatorische Zeitstudie durch die Erzaehlung winden;

Joh, als Vollwaise in Internaten aufgewachsen, Geschaeftsmann & Zocker um die 40, dessen bisher spannendes, aber unverbindliches Dasein ploetzlich Risse bekommt und schal schmeckt;

Marc, Mitte 20, Nesthaekchen im Schatten erfolgreicher Bueder, Nerd & Software-Profi mit viel Ehrgeiz, aber wenig Disziplin;

Liliane, Ex-Sozialarbeiter, Ende 20, nach beruflichem und privatem Debakel wieder Student, trotz Zweifel, ob ihre Ausbildung - zumal die psychologische - einen Sinn hat.
  Obwohl schweigsam, ist Liliane der Administrator der Fahrgemeinschaft. Sie ist die Letzte dreier Generationen Frauen, die alle mehr oder weniger unter der unverdauten Kriegsvergangenheit der ersten leiden und nicht eben Plaudertaschen sind - von Menschen umgeben, die sich damit nicht zufrieden geben und gespraechiger sind: Maenner.
  Ironie? Och.

  "Gesiebtes Brot" (Arbeitstitel: "Eine Kleine Bigamie") ist ein Gegenwartsroman (2015/2016; 213 Seiten), ausser im niedergemotzten (Gegenteil von aufgemotzt) alten Buick von Phil spielt die Geschichte in einer der wenigen "Randortschaften" ab, die sowohl die Gier der Metropole, der Globalisierung wie die Verfressenheit nach immer mehr Strassen widerstanden und ueberlebt haben.
  Die sog. Fluechtlingskrise hat den Markt-Tunnelblick der Politiker beinahe verdeckt, eine Pseudo(Boersen)welt vorlassend, die mit dem Leben nichts zu tun hat. Die unkontrollierte Gegenbewegung im Netz ist nichts als das Gegenstueck zur profit-orientierten Raupe, die alles frisst. Leise und authentische Hintergrundmusik einer merkwuerdigen Fahrgemeinschaft, deren Ende offen ist.



table of contents

I. unique - joh.........................................................................1
daten-tsunami, treppenlicht, gehacktes, business plan

II. eine kleine bigamie - phil & so ........................................18
phil & die ehe, kaethe, liliane & der unfall, franz

III. gewittern - mim & liliane ................................................41
mob, elektronische vergewaltigung, austern, fluechtlinge

IV. nerdy - patrick & joh........................................................58
mathe, 3 im mini, kuckucks-oma, mantel unterm rock, dubliner

V. qwertz - keine janneke.......................................................81
berge, gusto, adobo, das wetter, mimosen-destruktion, footprint

VI. gesiebtes brot - janneke & pam ......................................100

absolution, totenruhe, wadenwickeln, nsa-mann, fotos, chevy

VII. machtsweg - anne & clara..............................................131

anne & mutter, aufloesung, sonnabend, kunstwerk, koma-ben

VIII. dekado - elvira & sophia..............................................152

regentropfen im zug, fasching, tirade, sophia, unfall

IX. die wand...............................................................189-213

blitzidee, error, kralle, der keller, suendenbock