corona bluesmiluv jacobse
Dies ist ein ca. 40seitiges Corona-Geschenk: komplett, unkompliziert, so gut wie nicht pointiert, lustig und (hoffentlich) angenehm zu lesen. Gewalt? Minimal. Sex? Allenfalls dezent-erotische Momente, ein wenig #MeToo for insiders - nix fuer Romantiker, nothing for the beach. Mit lockerer Hand waehrend den ersten sog. Lockdowns 1 & 2 geschrieben. Ein Geschenk, aber kein Freiwild: Hartz4-Empfaenger sind herzlich eingeladen, evtl. Plagiate in meinem Namen zur Anzeige zu bringen und dann gerne das Geld am Strand zu verjubeln. Viel Spass beim Lesen! (Ende 2020 korrigiert von Alicia, die sicherlich verzweifelt ist, weil ich schon wieder etwas geaendert habe - danke!)
(kim) Kims Vater hatte wiederholt davor gewarnt, die Nase oder andere vorstehende Koerperteile in den Garten eines Nachbarn einzutauchen: es koennte stecken bleiben, und umziehen ist doof. Als Gaertner oder Rentner mit viel Zeit allenfalls. Oder als gleichgueltiger, pragmatischer Stoffel mit einem Fell, das keine Bremse zu durchdringen vermag. Und nun hatte sie einen am Hals. "QUEEN OF THE DANCE, original mit Alice McArdy. Woher haette sie wissen sollen, dass der Mensch, der so schnoddrig ihre Konzertkarten in den hiesigen SaNews und im Internet feilbot, ihr Nachbar war? Nun gut, das Konzert sollte in Salten stattfinden, je nach Bizeps zwei bis vier Steinwuerfe von ihrer Haustuer entfernt. Und? Salten war kein Kuhdorf, die SAL kein Dorftheater und aus irgendeinem Grund hatte Hamburg sich in ihrem Hinterkopf als sein Wohnort verankert. Als die Staedte der Europatour von Queen of the Dance bekannt gegeben worden waren, hatte sie mit Paps und Daniel in der Huette unten in Bayern Urlaub gemacht: medien- und digitalfrei; ihre Anstrengungen, nachtraeglich eine Karte zu ergattern, waren wie Versuche, sich unter Wasser verstaendlich zu machen: Jene Anzeige in den Saltener News schien Alice und ihre CoTaenzer auch nicht naeher ruecken zu lassen: je mehr sie sich schriftlich abstrampelte, wenigstens eine der beiden Karten zu ergattern, umso grotesker wurden die Bemuehungen ihres Gegenspielers, sie zu behalten - dagegen war Don Quixote ein mickriger Beamte der Peanutsabteilung. Mit Geld war er nicht zu locken - gerne haette sie beide Karten inklusive Heizdecke und/oder von der Oma gestrickte Socken zu einem guten Preis gekauft. Nach einigen Wochen Austausch von E-Mails, eine spritziger als die vorherige, hatten seine Geistreicheleien ihre Bedenken derart aufgeweicht, dass ein Blinddate daraus wurde - ihr erstes ueberhaupt... Nicht dass er haesslich war, oh nein, ganz passabel: halbwegs gross, alle Haare, Zaehne und Gliedmassen vorhanden; Typ glattrasierter, wenn auch unsportlicher Landarzt/Anwalt/Beamter mit Halstuch. Gar nicht uebel also - nur: er war nicht ihr Typ. Sie hatte naemlich keinen. Vernuenftige und selbstaendige Frauen nehmen Aeusserlichkeiten bekanntlich nicht so wichtig, stimmt's? "Tiara Andrieux?" Erhobene Brauen, fragend, aber offener und selbstbewusster Blick aus verwaschen pseudoblauen Augen. Oder waren sie grau? oder braun?... hatte er ueberhaupt Augen? Wer...? Bei diesem ersten Treffen hatte sich ihre Aufmerksamkeit weniger auf ihn als auf die Buehne konzentriert: schwungvolle Musik und synchrone Bewegungsablaeufe, ein mitreissender KombiPack, der alle Gliedmasse mitzappeln liess. Dieser den gesamten Koerper erfassende Rhythmus, ein Mix aus Ballett und Steptanzen mit akrobatischen Einlagen: einmalig! Alles mit einer Leichtigkeit - man haette schwoeren koennen, es zu Hause einigermassen nachtanzen zu koennen. Kurz: sie hatte den Mann neben sich vergessen und musste sich nach dem Konzert zusammenreissen, ihm die noetigste Aufmerksamkeit zu schenken. Ein Auftakt so vielversprechend wie ein ungeschaelter Apfel am Schluss eines 4-Sterne-Menues. Absichten hatte sie keine - weder ernsthafte noch unehrenhafte. Zwischen zwei ganz patenten "Kerlen" und einer kraenkelnden, dafuer sehr lieben alten Frau relativ unverhaetschelt aufgewachsen, hing ihre Glueckseligkeit weder von einem Mannsbild noch vom Muttertum ab - im Grunde ein Paar Schuhe, oder? Warum mutwillig einen Zustand veraendern, mit dem man rundum einverstanden war? Sie liebte ihren Beruf, ging genauso gerne aus wie sie mit einem guten Buch zu Hause blieb - sie war unabhaengig und kultiviert, eine moderne Frau ohne biologisches Ticken und ohne Zicken. Und nicht zu uebersehen: die Saltener Meg Ryan sozusagen; ihre fast chronische Abwehrhaltung Maennern gegenueber stammte teils daher: mal angenommen sie wuerde mit den Augen rollen und hecheln beim Anblick jedes attraktiven Mannes, der vorbei lief? Auge isst mit, klar, aber ordentlich kauen war auch wichtig, von der Verdauung und Endausscheidung einmal abgesehen. Und als Koechin, Putzfrau und Waeschefrau irgendeiner verzogenen Majestaet war sie sich zu schade - umgekehrt verlangte das auch keiner. Wieso also war eine "Beziehung" erstrebenswert? Ab und zu ausgehen, sich abwechselnd bekochen - war das nicht genug? Sex? Nichts weswegen man zusammenziehen muesste, fuer Notfaelle blieben Beate Uhse oder selbst Hand anlegen - besser als eine bakterielle Vaginose oder Schlimmeres. Er war auch nicht aufdringlich geworden und hatte sich per Haendedruck vorm Theater von ihr verabschiedet - wenn auch mit einem halben Wiedersehensversprechen in der Tasche. So ging es wochenlang: auf Armeslaenge Abstand, aber mit lockerem Handgelenk, weil Vorsicht nicht notwendig schien - ihrer zu niedrig haengende Lampe in der Kueche wich sie genauso mechanisch aus. Viel spaeter erfuhr sie, dass er vorm offiziellen Verkauf der Tickets in die Wohnung ganz unten eingezogen war. Da war der Zeitpunkt zum Auf-dem-Absatz-kehrt bereits verstrichen; irgendwie war sie so unauffaellig reingerutscht, nicht mal mit vertauschten Rollen haette der ausgelutschte Satz von Goethe gepasst: "...halb zog er sie, halb sank sie hin...". Je laenger sie als ideales Paar die Runde machten, umso mehr zog sie sich zurueck und umso weniger schien sie imstande, die leidige Sache zu beenden. Wie denn, mit welcher Begruendung? Selbst ihre aelteste Freundin, sonst Verstaendnis hoch drei, riet ihr, um Himmelswillen nicht alles hinzuschmeissen. Wohl wahr. Leider. Und leider waren die Haare, die sie in der Suppe fand, nicht sehr ausgepraegt, haetten auch was anderes sein koennen: Loriots Spaghetti etwa. Am schlimmsten waren ihre Unterhaltungen beziehungsweise Smalltalk, er ging ernsthafte Gespraeche aus dem Wege, war in dieser Hinsicht wie ein Stueck Seife - sie hingegen diskutierte fuer ihr Leben gern. Allmaehlich baute sich in ihr ein Groll auf, dass sie glaubte, explodieren zu muessen. Und sie explodierte. Regelmaessig. Er laechelte. War ganz Verstaendnis. Machte ihr einen Heiratsantrag, den sie wutschnaubend ablehnte - er war dann nicht zu halten: war sie nicht zum Anbeissen, wenn sie wuetend war, sein huebsches kleines Frauchen... grrrrrr. Eines Tages hatte sie ein Ei in der Hand und schwups! landete das unschuldige Ding in seinem Briefkasten. Oder sie troepfelte ein wenig mit Sekundenkleber herum: Tuerschloesser, Schuhe und Klamotten - alles, was ihr klebenswert schien. Und ihm gehoerte. Es dauerte, bis ihm aufging, wem er diese Unannehmlichkeiten zu verdanken hatte; ihr waren naemlich die kleinen Ideen - und die Geduld - ausgegangen, heftigeres Geschuetz musste her. Erst als er sie in flagranti erwischte, wie sie alle Riesenreifen seines ausserhalb der Stadt parkenden SUV mit einem Hammertacker bearbeitete, nachdem er sie tags zuvor ueber einen Hamburger Termin informiert hatte, rasselten bei ihm die Alarmglocken los. Es folgten ernsthafte, aber verstaendnisvolle Gespraechen, alle nach dem Schema: Ihre letzte Aktion war ein richtiger Stinker - im wahrsten Sinne des Wortes. An einem sehr fruehen Sonntagmorgen war er vom Geburttag eines Freundes leicht angedieselt nach Hause gekommen und gleich mit beiden Fuessen reingeplanscht. Er hatte den Notklempner rufen muessen, der - schliesslich war Sonntag - innerhalb einer Stunde da war. Dieser ueberteuerte Mann war zwei Stunden spaeter gezwungen, Verstaerkung herbeizutelefonieren, um dann mit nunmehr drei Mann und einem fuer Saltener Verhaeltnisse Monster von Wagen, der nach einem ausgekuegelten System hatte durch Saltens Strassen gelotst werden muessen, nicht nur in seiner Wohnung, auch der Gullydeckel vorm Haus wurde gelueftet (sein schoener Steingarten!) zu wuehlen und zu saugen und zu pumpen - vier Stunden lang; und immer wieder waren atemberaubende Faekalien aus dem Klo im Parterre herausgeblubbert, weil die Bewohner der hoeher gelegenen Mietwohnungen - insgesamt fuenf Partien eines dieser wunderschoenen Altbau-Fachwerkhaeuser in der Innenstadt - irgendwann ihre nachts angesammelte Fluessigkeit, wenn nicht Festeres, spuerten und aufstanden, um sich diesbezueglich zu erleichtern, und exakt unter seiner Wohnung im Knick Richtung Strasse sich die ganze Chose angesammelt hatte. Selbstverstaendlich hatten die Herren in Overalls es nicht noetig, sich zu buecken, um den Schweinkram aufzuwischen, und wer wohnte ganz unten, wo an diesem mittlerweile gar nicht mehr fruehen, dafuer wunderschoen klaren Sonntag noch mindestens zehnmal die stinkende Pampe aus dem Klo im Bad seiner wunderschoenen Wohnung herausquoll? Ungewohnt verschwitzt und apart duftend stampfte er gegen Abend, als er mit den Saeuberungsarbeiten endlich fertig geworden war, die Stufen zu ihr hoch, den Daumen so lange auf ihrem Klingelknopf lassend, bis sie zerknautscht und verschlafen im Morgenmantel die Tuer aufmachte. Sie sanft mit dem eigenen Koerper in ihre Wohnung bugsierend und einem Seitenkick die Tuer schliessend, hatte er seine rechte, vor ungewohnt koerperlicher Arbeit und Wasser geroeteten Hand auf ihre linke Wange gelegt, eine bestimmte Stelle ganz leicht beruehrend, die sie ihm leider einmal verraten hatte: wie ein Hauch. Die linke Hand platzierte er, ihren Morgenmantel oeffnend, zielsicher etwas links unterhalb des Nabels. Ihre empfindlichen Geruchsnerven, ihr nach vier Tagen Influenza geschwaechter Verstand, alles baeumte sich auf und fiel dann wie nicht vorhanden in sich zusammen, und er verfuehrte sie trotz ihrer rebellierenden Nase und dem irritierten Magen auf dem schwarzen Schmutzabtreter im Flur. Im letzten Augenblick drehte er sie wie eine Bulette inner Pann blitzschnell herum und entlud sich dort nach einigen heftigen Stoessen zielsicher, dabei zum ersten Mal den Mund aufmachend: "Passt doch, oder? Ja, durchaus angemessen." Und verschwand - alles ganz ruhig - als wuerde er die Zeitung lesen oder eben mal fuer kleine Maedchen. Sie rannte ins Bad und uebergab sich. Lange. Dann stand ihr Entschluss fest. II. mehr vorab "Sag mal", Roko sah sie nicht an, stattdessen den uralten hollaendischen Prunkofen mit den Keramikfuessen und delftblau gemalten Originalkacheln bewundernd, der seit Olgas Einzug in der Ecke zwischen Wohn- und Esszimmer - und davor einige Dekaden in ihrem Berliner Empfangsraum - gestanden hatte. "Hast du ueberhaupt noch Verwandten?" Zweimal im Jahre trafen sie sich zum jeweiligen Geburtstag der Freundinnen, die passenderweise fast sechs Monaten auseinander lagen - selbst vier Jahren nach Elisabeths Tod noch. Sassen auf vor Aeonen kunstvoll geschnitzten, aber gottlob erst vor Jahren frisch gepolsterten Stuehlen in Olgas Esszimmer, das wie das gesamte Haus moderat und geschmackvoll mit Antikmoebeln ausgestattet war, Tassen, Kanne mit koffeinfreiem Kaffee und Diaetgebaeck zwischen sich auf dem im gleichen Stil geschnitzten runden Tisch. Im Laufe jedes langen Lebens faellt irgendwann das eine oder andere vormals lebenswichtige Ritual dem Schafott der Zeit zum Opfer - Olgas letzte Bastion war ihre gute Stube beziehungsweise das Wohnzimmer als Empfangsraum: das Knacken der Gelenke, wenn man sich in dieser tiefen Grube namens Sofa fallenlassen liess und die Anstrengung, aus derselben wieder herauszukommen, die Abstaende zwischen allem, von Kanne bis zur Zeitung, die es galt zu ueberwinden, moeglichst in Zeitlupentempo wegen evtl. nachfolgenden Schmerzen und/oder Scherben, die irgendwer wegraeumen musste. Wie die erste Lesebrille: irgendwann reichte die Reichweite nicht mehr. Es hatte was fuer sich, seine Zeitung auf den Tisch ausbreiten und ohne aufstehen ueberall heran zu kommen und sich den Hals nicht verrenken zu muessen, um Besucher auf den Mund sehen zu koennen, denn das Gehoer wurde mit den Jahren auch nicht besser, und diese komischen kleinen Dinger, die dem abhelfen sollten, piepten immer zur Unzeit und machten auch ansonsten sonderbare Geraeusche, vom Fummelkram mit den noch winzigeren Batterien abgesehen. Olga sann darueber nach, ob das Trendwort #Achtsamkeit nicht eher ein Boomerwort war, kicherte und vergass es gleich darauf wieder. "Kommt sonst niemand?" wies Roko mit den Augen auf drei weiteren Kaffeegedecke. "Sind Malte und seine Frau und Schwester auch tot?" Wenn Olga wollte, konnte sie ihrer megaphonaehnlichen Stimme zum sanften Katzenschnurren herunterdimmen. Immer noch. "Nun, trink wenigstens deinen Kaffee aus", meinte sie mit einem Laecheln, das entfernt an die charmante Gastgeberin von frueher erinnerte. * * * "Wie lange weisst du davon?" wollte sie ohne Vorrede wissen, als er abends nach einigen Stunden Telefonterror endlich abhob. III. irgendwo zwischen I & II (immer noch oder schon wieder kim) Kaum war Kims Gesundheit wieder hergestellt, schlich sie nachts in den Keller, einige Schraeubchen der Bunkertuer fester drehend, dafuer andere lockernd, so dass die schwere Tuer, einmal zugefallen, von innen nicht mehr zu oeffnen war - hoechstens per Dynamit. Als Tuepfelchen auf dem i hatte sie tags zuvor das gesamte Werkzeug aus ihren Kellerraeumen nach oben geschleppt: fertig war die Falle. Kellerfenster gab es hier unten keine: eine Gruft ohne Funkempfang, modrig und nicht eben gut durchlueftet, eventuelles Poltern drang allenfalls als Rattenkonzert durch die Bunkertuer - vorm Einrichten ihrer Bastelraeume hatte sie das getestet. Auch ausserhalb ihres Berufs war sie begeisterter Tueftler und die einzige im Hause, die den miefigen ehemaligen Bunker aktiv nutzte, so dass eine Stoerung nicht zu befuerchten war; dennoch entschied sie sich fuer das ruhigere Wochenende, um nicht in Versuchung zu kommen, den Halunke vorzeitig rauszulassen: an diesem Weekend wuerde sie ausnahmsweise nicht zu Hause sein, musste zu ihrem erkrankten Vater, dem einzigen Menschen, der ihre doch recht vagen Vorbehalte gegenueber Mike teilte, ein Mitkommen dieser allgegenwaertigen 'Beziehung' ausschliessend. Halleluja. Samstag schaukelte sie mit Tolstois "Krieg und Frieden" in ihremm bequemen Haengesitz, Rucksack fix und fertig gepackt neben der Wohnungstuer und voller Vorfreude erstens auf ein entspanntes Wochenende ohne ihn und mit Paps, dann natuerlich ueber ihren Streich und dessen mutmasslichen Folgen: ein Tag Einzelhaft in unsauberer und gruftkalter Umgebung wuerde selbst den traegsten Doeskopp zum Berserker und den unartigen Scherzkeks zum verlassenen freien Menschen machen... Oder? Es war vielleicht albern, aber sie wollte, dass er sie zum Teufel schickte und nicht umgekehrt - warum auch immer. Sie hatte ihre Raeume nicht abgeschlossen und ihm einen guten Schlafsack dagelassen, tja, und seine rote Kinderploerre, die er unten verwahrte, hielt auch warm: wohl bekomm's und adieu, Maus! Die erste Minicam entdeckte sie auf der Suche nach Stoff fuer ihre selbstgebastelte "Klaeranlage", eine bereits vierstoeckige mit Stoffresten bespannte Holzkonstruktion. Holz hatte sie ja. Ihre eigenen Raeume hatte sie schnell durch, waren gut isoliert und beinahe bequem - sogar mit Klimaanlage, wie es sich fuer den Keller eines gelernten Handwerkers ziemte. Froh ueber den Schraubendreher, betaetigte sie sich als den Einbrecher, den sie erfunden hatte, auf der Suche nach Flaschen und Stoffresten fuer die 'Entgiftung' der fast einzigen Fluessigkeit im Keller, denn die Melkquote des Airconditioners ueberschritt selten 1 Fingerhut pro Tag. Mit einem kleinen Schraubendreher Schloesser aufbrechen war keine Kleinigkeit, zumal die meisten Nachbarn nach dem letzten Einbruch entweder stabile Schloesser eingebaut oder nichts zu verlieren hatten, die Schrauben der Scharnieren waren alle verrostet - irgendwann fing der Mangel an Fluessigkeit, Sauerstoff und Schlaf an, sich bemerkbar zu machen. Erschoepft hatte sie sich auf den Boden sinken lassen und schaute von dort direkt in die erste Cam: an der Lampe angebracht, die von der niedrigen Decke des langen T-foermigen Korridors die ersten drei oder vier Meter ausleuchten sollte, Linse Richtung Bunkertuer. Einmal aufmerksam, fokussierte sie ihre Suchaktion und fand noch eine vor seiner Kellertuer, mit Blick auf die gesamte Laenge des L-Korridors; die dritte und vierte entdeckte sie in seinen mit Sperrmuell und Rotwein gefuellten Raeumen, dessen Tuer sie als einzige ohne Werkzeug aufzubrechen vermocht hatte - das Schloss war ein Witz aus der Vorkriegszeit. Nach dem Kellervandalismus hatte sie die Installation einer Mini-Ueberwachungskamera in ihrem Keller erwogen und sich schlau gemacht, kannte sich daher aus: alle Cams waren mit Bewegungs- oder Lichtmelder ausgestattet, hatten zweifelsohne direkten Kontakt zu Mikes PC und waren halbwegs gut getarnt sowie fachmaennisch angebracht: wozu war man gelernter Elektronikfachmann? Allein die Vorstellung, wie Mike sich irgendwann an den Bildern ihrer Wut und Verzweiflung weiden wuerde, hielt sie davon ab, die Kameras eine nach der anderen runterzuholen und an die Wand zu schmettern. Langsam begab sie sich in ihren eigenen Keller und setzte sich an den uralten Schreinertisch, den Kopf auf ihre Arme legend, Gesicht nach unten. Sie musste nachdenken, und zwar ohne digitale Zeugen: IV. legen wir (ohne klammern) los? Fuenf Tage lag Kim im Marienkrankenhaus, bevor sie ihre Augen aufmachte, und wer sass an ihrem Krankenbett, das Gesicht ein einziges Paket aus Treuherzigkeit und Sorge? Hauptchor der wenigen Besucher, die sich trotz Corona hertrauten: "Wie konnte das passieren?" Von Paps und Daniel keine Spur. Waehrend ihrer kurzen wachen Momente gingen ihr Bilder durch den Kopf: die Abwesenheit des einen war schon merkwuerdig genug - aber beide? Ihr Verhaeltnis war eng, immer gewesen. Ihr Vater hatte gerade den Gesellenbrief in der Tasche, als sie quasi mutterlos zur Welt gekommen war. Es schien natuerlich, das Lehrlingsmaedel bei sich aufzunehmen, als dieses fast zeitgleich vom verheirateten Chef schwanger geworden war. Er hatte eine Ersatzmutter oder weibliche Bezugsperson gesucht, sein Selbstvertrauen als junger Vater und ueberhaupt musste sich erst entwickeln. Viele Jahre spaeter hatte der umtriebige Boss dem jungen Paar die Tischlerei ueberschrieben. Erst nach einigen Tagen kam ihr Bruder mit einem alten Rucksack, Mundschutz und schweren Schritten hereingeschlurft, ganz in Schwarz, die Ringe unter den Augen noch tiefer als sonst. Und stumm. Kim spuerte, wie ihre Blutzirkulation sich voellig aus dem Kopf zurueckzog: "Paps?" * * * Ein Tag spaeter wurde in ganz Deutschland Lockdown Numero 2 verhaengt. Fast zeitgleich stimmte Salten auf einem Zoom-Buergertreff mit grosser Mehrheit zu, eine begrenzte Anzahl franzoesische Corona-Patienten aufzunehmen, daher beschlossen die frischgebackenen Grosseltern auf Nummer Sicher zu gehen und 'dat Maedel' trotz gelegentlicher Bewusstlosigkeit aus dem Krankenhaus zu holen, zumal der junge Mann, der darauf beharrte, ihr Verlobter zu sein, energische Anstalten machte, sie zu seiner Schwester zu lotsen. Nix! Eine gleichnamige Grossmutter wog mehr als ein mickriger Pseudo-Verlobter, der gleich am ersten Tag von der Patientin herself herausgeschmissen worden war - zumal der angesehene Professor Robert Konrad Landauer ein alter Freund der Familie war. Ohne lange herumzufackeln liess Olga das obere Appartement ihres dreistoeckigem Hauses, bis dahin Solarium, Massageraum, Sauna sowie Refugium ihrer Perserkatze, Julia, leerraeumen und reinigen; Krankenhausbett und Pfleger stammten vom brandneuen Grossvater, der sich beim Krankentransport weit aus dem Fenster gelehnt hatte, nachdem deutlich wurde, dass von Kims Bruder nichts zu erwarten war. Am gleichen Tag lag das Maedel besser abgesichert als so mancher Papst: wer dort hoch wollte, musste erst an einer alten Frau vorbei, die entschlossen war, es nicht nochmal zu verkacken. Nach und nach beendete Olga ihre juristischen Kriege, dafuer einige Detektiven auf den merkwuerdigen "Verlobten" abstellend, und erfuhr unter anderem, dass dessen Firma kurz vorm Bankrott stand und er vom Staat als "Coronaopfer" Unterstuetzung beantragt hatte: Wenn der sich da mal nicht verrechnet hatte, noch hatte sie Beziehungen. Nach einigen Worten mit den Freunden Kims, die sich trotz Corona ins Krankenhaus getraut hatten, weitete Olga die Aufgaben der Detektei auf die Wohnung ihrer Enkelin aus und musste feststellen, dass das "Subjekt", wie sie den jungen Mann mit spitzen Lippen nannte, seine Kellerraeume bereits leergeraeumt hatte; in Kims Wohnung fanden sich immerhin einige Bugs mit Teilen von Fingerabdruecken, die nicht Kims waren - fehlte bloss die Aussage oder Anzeige des Maedels. V. bavaria blues Es war nicht geplant. Er war doch kein Verbrecher. Nicht so. Die Sache mit dem Keller war eine Retourkutsche gewesen, mehr nicht. In Ordnung, etwas derb, aber stundenlang in einer Kloake waten, um hochwertige Bruecken, Chippendalemoebel und Porzellan zu retten - und dann die Schuhsammlung, sein ganzer Stolz: was war dat, Pillepalle, oder wat? Und die oh so liebe unschuldige Tiara hatte es generalstabsmaessig geplant; auch die Kellergeschichte war ihm zugedacht worden, er sollte tagelang im Keller eingesperrt darben - was konnte er dafuer, wenn Tiaras Eltern deren Erziehung so schandbar lasch gehandhabt hatten? Solche Sachen waren in einer Beziehung zwar nicht ueblich, aber doch etwas, was nur das Paar etwas anging. Persoenlich also, privat. Das mit ihrem Bruder war etwas anderes. Doch auch hier war Mike irgendwie hineingerutscht. Er hatte ahnungslos, wenn auch nicht komplett unschuldig, einfach nur reagiert, mehr nicht. Sein Verhaeltnis zu Daniel war von Anfang an gut gewesen, sie hatten diverse Sachen ohne weibliche Begleitung gemacht - was Maenner waehrend einer Pandemie so machen, wenn das Wochenende lang und Frauen keine Lust hatten: ein wenig ueber den Durst trinken, Fussball und heisse Filme gucken, sowas. Nicht direkt ein Herz und eine Seele, aber sich in einigen typisch maskulinen Dingen einig und bei Beziehungsstress so, dass der Kollateralschaden minimal blieb. Machten die Weiber genauso. Er hatte dem Juengeren elektronisch weitergeholfen, und dafuer einige Insidertipps vom Bankkaufmann erhalten, die immer Hand und Fuss hatten. Fast immer. Er machte Daniel nicht dafuer verantwortlich, der das gleiche 'sichere' Aktienpaket und ebenfalls Federn gelassen hatte, wenn auch nicht in dem Umfang wie er selbst. Wie hatte Daniel himself gesagt? * * * Die Aehnlichkeit zwischen Daniel und seiner Schwester war auch aeusserlich minimal: von weitem, von der Seite und von hinten. Fast gleich gross, gleiche Haarfarbe und Haarlaenge - nur der ganze Schwung schien beim Maedel haengengeblieben: "Das hoert sich schrecklich an, tut mir echt Leid mit deiner Firma. Weisst was?" unterbrach er spontan das Klagelied seines Gegenuebers. "Bisschen Gesellschaft passt. Ich wollte nach Bayern, nach unsrer Huette sehen und bleib hoechstens eine Woche - hast Lust?" Taktvoll verschwieg er seinen Plan, sich danach um Kim kuemmern zu wollen, die momentan dort, wo sie lag, besser aufgehoben war. Was blieb Mike uebrig? Es konnte nicht schaden, den Bruder ein wenig auszuquetschen. Dass der Zug Tiara abgefahren war, hatte er kapiert, aber war deren Amnesie echt und wenn ja, war es irreversibel? Ausgenommen beiden Wanzen in ihrer Wohnung, an die er nicht herankam, gab es fuer seine digitale Schnuffelei keine Beweise, die Cams im Keller hatte er entfernt, sobald die Ruecklichter des Krankenwagens mit Tiara ausser Sicht waren, alle Dateien mehrfach geloescht bzw. ueberschrieben. Sie war trotz Temperament ein reservierter Mensch, hatte ihm zum Beispiel nie ihre Schluessel anvertraut oder allein in der Wohnung gelassen. Sowas Misstrauisches hatte er noch nie erlebt, er selbst war da ganz anders. Die grosse Frage blieb daher: hatte sie vor, ihn anzuzeigen? Gleichzeitig war Bayern eine gute Gelegenheit, in Ruhe neue Plaene zu schmieden und einigen unliebsamen Menschen aus dem Wege gehen. * * * Die lange Fahrt verlief ohne Pannen und vorwiegend heiter, Daniel war sichtlich und hoerbar erleichtert, sein Trauercape in Salten lassen zu koennen. Sie wechselten sich beim Fahren ab, groehlten zur fetzigen Musik und liessen sich unterwegs coronagerecht dreimal Essen rausbringen. Kaum Misstoene. Verbluefft war Mike darueber, dass der Sportwagen nicht mehr als 120 hergab: * * * Das Gebaeude bestand aus zwei Etagen; oben drei Schlafzimmer und ein Badezimmer inklusive Dusche, unten Kueche, Vorratskammer, Gaesteklo und zwei weitere Zimmer; alles sah verwahrlost aus und roch miefig, und die Vorraete waren zum Teil abgelaufen - die letzte Ueberholung lag wohl eine ganze Weile zurueck. Netz gab es nicht, nicht einmal Festnetz, nur ein kleines Fernsehgeraet mit Antenne - offenbar gewollt. Zwei Tage nach ihrem Ankunft rutschte die Huette dank einwandfreier Tischlerarbeiten kompakt fast fuenfzig Meter den Hang runter, Daniels Sportwagen, der direkt daneben gestanden hatte, wie ein angeleintes Huendchen hinterher; sie hatten geschlafen und waren nicht einmal wach geworden. Und nun sassen sie fest. Daniel war durch technischen Schnickschnack ebenso wenig beeindrucken wie seine Schwester, das und Mikes Unlust, sich die gute Stimmung durch Hiobsbotschaften zu verderben, die wie ein Dauerregen auf einen losprasselten und meist mit C anfingen, hatte ihn abgehalten, sein iPhone herausnehmen und damit anzugeben, das Wunderding empfing naemlich ueberall, angeblich auch vom Boden des Pazifiks, wenn es sein musste. Er hatte die Klappe gehalten und alles auf sich zukommen lassen - durchaus fuersorglich und legitim. Niemand konnte ihm den bloeden Bergrutsch in die Schuhe schieben, niemand konnte beweisen, dass er Empfang hatte. Sein Zauberphone verfuegte ueber mehrere unregistrierte Nummer, die er voruebergehend einsetzen und wegwerfen konnte, aber das i-tuepfelchen war: der GPS war niemals eingeschaltet gewesen. Klang wie eine Aufforderung - oder wozu sonst war das alles gut? Die erste SMS hatte er beim "Holzhacken" geschickt, eine Taetigkeit, die er freiwillig auf sich genommen hatte - Faulpelz Daniel schien von den ordentlich vertaeuten Holzstapeln, denen die kleine Rutschpartie nichts hatte anhaben koennen, nichts zu wissen. Der Text war einfach, kurz und unverfaenglich: "Hallo wertes Fraeulein, was ist Ihr Bruder Ihnen wert?" Die Nachricht hatte er sofort nach dem Senden vom iPhone getilgt und sechs Tage eingesetzt - danach existierte die Nummer nicht mehr, es sei denn, er verlaengerte. Niemand wuerde je beweisen koennen, dass er es gewesen war, und selbst wenn: was denn genau? Es war ein spontaner Testballon, er hatte sich nicht festgelegt, hatte nicht einmal einen Plan: just for fun. Monopoly. Eine Antwort auf seinen erpresserischen Versuchsballon war so schnell nicht zu erwarten. Daniel war auf der Hinfahrt gespraechig gewesen, daher wusste er, dass Tiara meistens schlief und bei ihrer reichen Grossmutter professionelle Vollverpflegung genoss. Wertvoll war auch die Information, dass der ruhebeduerftige arme Bruder seine Reise nach Bayern nicht angekuendigt hatte. Und nun war Lockdown. Ohne Kontakt nach draussen. Perfekt, fast wie eine Einladung. Weder Daniel noch er wurden irgendwo erwartet, und unterwegs aufgehalten hatte man sie nicht: warum auch, bei ihnen im hohen Norden gab es kaum Infizierten - hoechstens die paar Franzosen, die das kleinere Saltener Krankenhaus aufgenommen hatte. Besser haette es nicht kommen koennen, wenn er es wochenlang geplant haette. * * * Kim hatte die paar Sachen, die Daniel ihr ins Krankenhaus gebracht hatte, bereits wieder in ihren Rucksack gestopft, als die SMS eintraf. Sie war wackelig auf den Beinen, aber entschlossen, die Farce ihrer "Grossmutter" noch in der gleichen Stunde ihrer Erwachung zu beenden und zu gehen: kaum war Paps tot, draengte sich die alte Frau, die ihn weggegeben hatte, auf - was dachte sie sich dabei? Zufaellig war auch der Professor anwesend, sodass beide Zeugen wurden, wie ihr beim Lesen jede Unze Blut aus dem ohnehin bleichen Gesicht zu weichen schien. "Was ist passiert?!" trompetete Olga erschrocken, waehrend Roko seine Enkeltochter sanft aber energisch zurueck zum Bett dirigierte. Die junge Frau hauchte: "Mike hat Daniel entfuehrt" dachte noch: "Okay, sollen die das uebernehmen - ich bin dann mal weg!", dem alten Mann ihr Handy wie einen Degen ueberreichend. Und war weg. Die demonstrative Bevorzugung traf Olga kurz wie eine feine Nadel, aber was soll's: eine Chance war eine Chance - wahrscheinlich ihre letzte. Sie war entschlossen alles zu tun, auszuharren und natuerlich auch jede Frage wahrheitsgemaess zu beantworten - Fragen auf die sie seit Jahren vorbereitet war. Und die Fragen kamen. Momentan konnten sie nicht viel tun, es war das Beste, auf eventuelle Anforderungen der Entfuehrer zu warten, und obwohl Kim sich rasch erholte, war klar, dass sie der Aufgabe so bald nicht gewachsen sein wuerde. Die kurzen Blackouts waren mehr koerperlicher als geistiger Natur, daher blieb sie folgsam im Bett und ass und trank alles, was man ihr vorsetzte, nach jeder pragmatisch kurzen Frage sofort wegnickend - und doch spuerte Olga, wie sie aufmerksam, fast saugend zuhoerte: "Wir waren zwei Kusinen mit nur einer Moeglichkeit zu studieren. Von Anfang an stand fest, dass ich studieren wuerde, Klara war schon immer haeuslicher, eine Lichtallergie machte ihr das Leben ausserdem zur Hoelle. Nach dem Krieg waren wir die letzten unsrer Familie, und wie damals ueblich wurden wir Kinder aus dem zerbombten Hamburg evakuiert und landeten in Salten, wo man bemueht war Familienmitglieder zusammenzuhalten, sind sogar zur gleichen Schule gegangen. Dank der chaotischen Zeiten erfuhren wir erst spaeter vom Studiumplatz und fingen an zu planen. Es war ausgemacht, dass ich sie spaeter finanziell unterstuetzen wuerde. Im Gegensatz zu mir war sie bescheiden und brauchte nicht viel: Haeuschen auf dem Land reichte ihr. Noch bevor ich schwanger wurde, hatten wir alles genau festgelegt..." "Ein Kuhhandel also", blitzte es kurz und giftgruen aus schmalen Schlitzen hervor, bevor Kim ihre Augen wieder schloss. "Wuerde ich nicht so nennen. Nachdem meine ausserplanmaessige Schwangerschaft feststand, hielten wir den Vertrag fuer ueberfluessig. Es ergab sich so. Ihr war klar, dass ich mich umso mehr dahinterklemmen wuerde und sie war begeistert von der Aussicht, ein Kind allein fuer sich zu haben, ohne mit den 'Unannehmlichkeiten', wie sie Sex und Geburt nannte, in Beruehrung kommen zu muessen. So eine Allergie macht einsam, weisst du. Aber du hast sie gekannt - wem sag ich das? Mein neuer Part war, ihr die zusaetzliche Aufgabe finanziell zu ermoeglichen, sowie es in meiner Macht lag. Niemand hatte damals Geld oder Eltern mit Geld - nicht in unseren Kreisen. Das Studium wurde gespendet von einer gemeinsamen Tante vaeterlicherseits, die schon frueh nach Schweden ausgewandert war und 78jaehrig verstarb; sie hatte mit ihrem schwedischen Mann ein Geschaeft, das gut genug lief, jeden Monat etwas beiseite legen zu koennen. Wie viele damals, hatte sie studieren wollen und spaeter fuer ihren Sohn gespart, der frueh toedlich verunglueckte. "Welche Moeglichkeiten? Paps Schulbildung war genauso einfach wie die Lehre hinterher. Die Tischlerei kam vom leiblichen Vater Daniels." "Hat er das so gesagt?" Die Frage stammte von Roko, dessen Abneigung fuer die 'olle Pisshexe' vor einiger Zeit einer penetranten Neugierde gewichen war. "Lassen wir das halt so stehen", kam es schnell und schnodderig von Olga, die genug hatte und nach unten in der eigenen Etage verschwand. "Jaja, hau nur ab, wenn's nicht passt!" hoerte sie ihre Enkelin aufgebracht hinterher rufen. Fuer "Hast du-nicht-hab-ich-doch-nicht-wohl"-Spielchen hatte Olga bereits als junger Mensch keinen Nerv gehabt: musste das sein? Sie aeusserte sich dahingehend, als Roko spaeter herunterkam. "Das, was du Spielchen nennst, raubt anderen unter Umstaenden ihre Ruhe oder gar Daseinsberechtigung", orakelte der. "Hat die erfolgreiche allzeit bekannte Olga Andrieux schon darueber nachgedacht?" "Das sagt der Richtige!" prustete sie ihm ins Gesicht. Er erroetete trotz Professur und Alter: "Vergiss nicht, Olga, du hast mir damals die Moeglichkeit einer Wahl genommen", konterte er wuerdevoll. "Ehrlich gesagt, nehme ich dir das sehr sehr uebel." Er plusterte sich etwas auf, selbst wenig ueberzeugt von seiner Rolle. "Ach?" spoettelte sie. "Selbstredend haettest du Elisa den alkoholisierten Ausrutscher vor eurer Hochzeit gebeichtet, dich scheiden lassen und dich dann mutterseelen-, Quatsch: vaterseelenallein um den Bengel gekuemmert? Sei froh, dass ich dir die Illusion, dich stets korrekt zu verhalten, jahrzehntelang bewahrt habe, du Feigling!" Diesmal war er es, der erbost nach unten stolzierte. "Jaja, hau nur ab, wenn's nicht passt!" konnte Olga sich nicht verkneifen, ihm hinterher zu werfen, ueber die eigene Albernheit gackernd wie ein Backfisch: das Leben ab achtzig konnte soviel Spass machen. Wenn bloss der Koerper nicht staendig hinterherhinken wuerde. "Roko?!" trompetete sie keine halbe Stunde spaeter auf seinen Anrufbeantworter, voellig entgegen ihrer Eigenart als Privatier mit viel Zeit, so lange eine Nummer zu waehlen bis ein menschliches Wesen abhob: sie musste noch packen, verdammt, wieso konnte der Hallodri nicht einfach rangehen wie jeder andere? Roko war ein Gewohnheitstier, sie wusste, er war daheim. "Vorhin hat mein Schnueffler angerufen. Das letzte Lebenszeichen vom Handy des verschwundenen Bruders kam von einem Kaff suedlich von Garmisch-Partenkirchen. Plain text: wir haben seine location und zuckeln gleich in meinem Wagen los, kommen vorher bei dir vorbei wegen der unerwarteten Ehre, dass du uns zu begleiten gedenkst. Tudelu." Natuerlich wollte er mit. Wollte? Er musste: Die Versoehnung der Freundinnen war Roko gar nicht Recht gewesen, wegen eines Sehfehlers durfte Elisabeth selbst seit einiger Zeit nicht mehr fahren und hatte ihn jedesmal bequasseln koennen, den Chauffeur zu spielen: das Geschnatter hinten war manchmal mehr als er ertragen konnte. Als Olgas Wagen eine gute Stunde spaeter vor seinem Haus hielt, stand Roko wie eine Saeule am Strassenrand, ausser einer kleinen Reisetasche noch einen Alukoffer in der Hand. Olga sueffisant: "Das sind doch hoffentlich keine Duellpistolen?" "Gute Idee. Guter Mann", lobte Kim trocken, die hinten sass und deren Kopf neugierig in der Luecke zwischen den Sitzen erschienen war. "Ganz ruhig. Wie ihr vielleicht wisst, bin ich berufstaetig und..." "Niemand verlangt, dass du mitkommst!" fiel ihm Olga sofort ins Wort, obwohl ihr graute vor der langen Fahrt mit einer Kranken, die alle paar Minuten einschlief. "...also musste ich mich bereit erklaeren, ein paar Proben fuers Muenchner Klinikum mitzunehmen" uebertoente der alte Mann. "Aber auf dem Rueckweg", bestimmte Olga ungnaedig. "Wir haben es eilig." "Na gut", gab er sich listig geschlagen. Olgas Schwierigkeiten mit den hiesigen Politessen waren ihm bekannt, eine weitere gelbe Karte konnte Olga sich nicht leisten. "Aber ich fahre!" In Olgas Gesicht arbeitete es: jahrelang das gezischelte "Psst, ich muss mich konzentrieren" oder laute Pfeifkonzerte von Roko, waehrend sie dazu verdonnert worden war, hinten zu sitzen, als sei sie nicht zurechnungsfaehig, das wurmte, doch dann zuckte sie die Achseln, stieg aus und setzte sich auf den Beifahrersitz. Irgendwann wuerde er muede werden, nach Bayern war kein Katzensprung, und irgendwann mussten sie auch wieder heimwaerts, stimmt's? Bis dahin konnte sie ein wenig Schlaf tanken. Scheinbar missmutig gab sie Roko die genaue Adresse. Kim war wieder mal eingeschlafen. Dachten sie. "So", machte das Maedel mit einer Stimme, die Roko bekannt vorkam und Widerrede von vornherein in den Boden stampfte. "Woher wisst ihr von der Huette?" Roko hob und senkte eine Schulter, was gleichzeitig seine Unschuld und sein Unvermoegen anzudeuten schien, sich auf etwas anderes als das Vehikel unter und denjenigen vor und hinter ihnen konzentrieren zu koennen. "Hab ich meiner Kusine irgendwann ueberschrieben, dachte, mit der Horde Enkelkids kann sie mehr damit anfangen als ich." "Horde?" kam es empoert von hinten, weder die erhobenen Brauen noch die uebereinander geschlagenen Armen bei der Zusatzfrage musste man sehen: "Tischlerei auch?" "Tz", machte Olga. "Ich hatte mit Klara vereinbart, einzuspringen, wann und wo ich kann. Sagte ich das nicht bereits?" "Und nun soll ich dir dafuer die Fuesse kuessen?" Olga, die waehrend laengeren Autoreisen stets ihre Schuhe abstreifte und seit zwei Dekaden im Auto ueberall dicke Socken herumliegen hatte, hob mit einer fuer ihr Alter bemerkenswerten Gelenkigkeit ein Bein, mit beiden Haenden ihren bestrumpften Fuss nach hinten zwischen den Sitzen schiebend. "Tu dir keinen Zwang an. Zu meiner Zeit hatte man allerdings andere Fetische." Kim schien die gesamte Innenluft des Autos inhalieren zu wollen und brach dann in ein schallendes Gelaechter aus, in das Olga prompt einfiel, Roko schuettelte den Kopf, konnte sich aber ein Schmunzeln nicht verkneifen. "Fein", meinte Olga schliesslich, nachdem sie sich vor allem wohl den Stress heruntergelacht hatten. "War auf einen Battle gefasst, im Auto fehlt mein Treppenhaus als Ausweichmoeglichkeit irgendwie. Also", setzte sie unaufgefordert ihren Rapport fort. "Wie bereits erwaehnt wurde das iPhone deines Bruders dort in der Gegend zuletzt geortet. Daniel hat etwa 250 km von der Huette entfernt Essen per Handy bestellt und abgeholt, zusammen mit einem Mann, dessen Beschreibung dem Subjekt aehnelt, stark aehnelt - habe also nur kombiniert, that's all. Miss Marple at her best." "Sollten wir nicht besser die Polizei verstaendigen?" kam es von Roko. "Nein!" waren sich die beiden Frauen unisono einig. "Fernerhin", fuhr Olga fort, als haette es den Zwischenruf nicht gegeben, "habe ich herausgefunden, dass der Hang, auf dem die Huette steht, vor wenigen Tagen dank exzessiver Regenfaelle nach ebenso exzessiver Trockenheit ca. 45 Meter Richtung Tal gerutscht ist. Welcome to the #climatecrisis." Schweigen. Und nach einer Weile von hinten: "Schlage vor, ihr seid ruhig, damit ich eine Aufforderung eines Lebenszeichens zusammengebastelt krieg, die sich nicht wie eine anhoert." "Ausgezeichneter Plan!" Sie hoerten es hinten piepen, dann leise Schnarchtoene - beruhigende Musik fuer Olga, die vor eineinhalb Stunden Schwester Maya gebeten hatte, ihr Auto zu holen und mit Blinklichtern vorm Haus zu warten, waehrend sie selbst alles auffindbare Bettzeug die Treppen hinuntergeworfen hatte; Kim war wesentlich langsamer gefolgt. Sollte sie inmitten des Daunenzeugs keine Luft bekommen, wuerden sie es hoeren bzw. nicht hoeren. Gelegentlich hielten sie an Tankstellen und kauften ein, was ihrer Meinung nach das junge Volk so konsumierten: von Chips bis Zwieback, Softdrinks und Schnaps. Die Oldies selbst waren bemueht, nicht allzu viel zu sich zu nehmen - wie Olga meinte: "Die Ueberlegung, ob das, was in der freien Natur bei mir hinten runterlaeuft, eventuell noch lebt, missfaellt mir irgendwie - koennen wir ja nachholen, nee." "Naechstes Mal kaufe ich mir einen Wohnwagen mit Autopilot", meldete sie sich erst wieder, nachdem Roko die Nacht durchgefahren und es bereits hell geworden war. "Bin ausgeschlafen - soll ich das Lenkrad uebernehmen? Du hast wieder Rot uebersehen, und das vorhin war kein Zebrastreifen, sondern ein Igel, der fixer war als du." "Hab ich nicht", bellte Roko leise zurueck. "In Ordnung, das war ein Ufo. Roko, anhalten - dort vorne ist eine Bushaltestelle. Dalli." Er oeffnete kurz spaeter murrend Sicherheitsgurt wie Tuer und beschloss, nach dem Umsteigen unverrichterdinge die Augen zuzumachen, seiner Erfahrung nach die beste Einstellung, wenn man etwas nicht aendern konnte. Er schlief sofort ein. "Oh", machte er nach Stunden ausgeruht. "Bin ich eingenickt? Ist was passiert?" "Das Objekt hat sich gemeldet und ein Foto vom schlafenden Daniel vorm Hintergrund der gestrigen TV-Sendung #KlimaVorAcht geschickt. Tzz", wackelte Olga mit dem Kopf, "wenn Klara das wuesste: TV in the hut, oioio." "Aha, er ist vom Subjekt zum Objekt mutiert - wie erfreulich. Und Dings?" erkundigte er sich vorsichtig, den Kopf nach hinten zuckend. "Dings", kam es aus der angedeuteten Richtung, "geht es gut." "Schoen", gab Roko zufrieden zurueck. "Wie weit sind wir?" "Noch etwa 90 Minuten. uebernimmst du?" hielt Olga ohne eine Antwort abzuwarten am Strassenrand. Sie fuhren auf einer Landstrasse, viel war um diese Zeit nicht los. "Meine Finger schlafen ein - und my ass erst!" "Ol-ga!" schnarrte Roko noch mahnend, als sei Kim erst sieben, bevor er schnell ausstieg, ehe das verruchte Weib es sich anders ueberlegen konnte. "So. Jetzt mal Tacheles: Oma Klara hat einen Banker als Paps biologischer Vater angegeben", kam es von hinten, sobald sie Fahrt aufgenommen hatten. "Wie passt das zusammen?" Roko machte einen Schlenker, fing den Wagen aber rechtzeitig genug, um einen Kaefer vorbeizulassen, von dessen Fahrer sie vornehmlich den mittleren Finger sahen. "Ol-ga!" wiederholte der Fahrer, diesmal aus einer tiefen Grotte. "Entschuldige mal, Klara war eine unverbesserliche Plaudertasche und als Student warst du nicht eben the Bank of America, mein damaliger Betthase aber schon. Dass er sterilisiert war, tat nichts zur Sache, der Skandal haette ihm karrieremaessig das Genick gebrochen, also hat er geblecht. Freiwillig - also gefragt hatte ich nicht, damit das klar ist. Kann auch sein, dass er mich ein wenig mochte, die Beziehung hat immerhin ueber dreizehn Jahre gehalten. Das Geld war fuer die Geburt und alles Rundherum, sowie zur Absicherung der ersten Zeit mit dem Kind, bis ich selbst verdiente. Versprochen ist versprochen - selbst Konfuzius haette eingesehen, dass es fuers Gemuet und alles andere besser ist, einen Banker zu melken als dessen Bank zu ueberfallen. Fuer mich selbst hab ich keinen bloody Penny von ihm genommen! Jawoll", schraenkte sie widerwillig ein, als haette es Einwaende gegeben, "er hat mir zum Anfangskredit meines Geschaeftes verholfen, aber hochoffiziell, habe ich mit Zins etcetera zurueck bezahlen muessen und wollen. Niemand gab damals einem weiblichen Nobody einen Kredit - auch heute uebrigens nicht, moechte ich wetten. 'Jetzt mal Tacheles', hat Klara immer gesagt", drehte sie den Kopf muehsam nach hinten, mit den Beinen ging das offenbar leichter. "Wir wussten: sie kann das, und ich kann was anderes. Klara hat darauf bestanden mit offenen Karten zu spielen, sonst waer ich gerne oefters als 'Tante' vorbeigekommen. Was soll ich sagen: 'Es tut mir Leid'? Es war die beste Loesung, verdammt!" "Also bin ich doch?" brachte Roko endlich hervor. Es klang nicht traurig. "Ist mir zu hoch", war Kim mit dem Thema noch nicht durch. "Warum hat der Banker meinen Bruder in seiner Bank aufgenommen und gefoerdert? Was hatte er davon?" "Oh", machte Olga. "Ich hatte ihn darum gebeten. Woher weisst du? Das hat nicht einmal Klara gewusst, die in solchen Dingen heikel war und ungern um Gefaelligkeiten bat. Top secret." "Ha!" machte ihre Enkeltochter im gleichen Tonfall. "Bis eben war es top secret." "Reingefallen", murmelte Olga halb zu sich selbst, belustigt vor sich hinkichernd. "Da wir schon beim Ausplaudern von Geheimnissen sind", warf Roko zwischen den beiden, wie um anzudeuten, dass er ja auch noch da waere. "Was ist eigentlich passiert zwischen dir und diesem Mike? Was Schlimmes?" Die ihnen bereits bekannten Schlafgeraeusche ihrer Enkeltochter klangen zu ihnen herueber. "Ein 'geht dich einen feuchten Dreck an' haette gereicht. Denn eben nicht", zuckte der Fahrer die Achseln. "Liebe Tante", ergaenzte Olga elisabethhaft, ebenfalls die Schultern hochziehend. VI. schraeglage Die Huette hatte beim Runterrutschen eine breite ungleichmaessige Schneise gerissen; es sah aus, als haette ein Riese jauchzend sein Alter vergessen, um seitlich den Hang herunterzurollen; ein oder zwei ausgewachsene Baeume im Wege und anstatt Baumstaemme die urspruenglichen Baumarktlatten und das Haeuschen haette den Rutsch nicht so kompakt ueberstanden. Wozu war man Tischler? Zum Hinabklettern des halbsteilen Hanges, der jahrelang vom Geschwisterpaar als Riesenrutsche benutzt worden war, brauchte das Trio wesentlich laenger: die teils versteckten Krater und Wurzeln, der Matsch, das Alter der Senioren und Kims fehlende Kondition. "Behalte das Objekt bitte im Auge!" ordnete das Maeuschen an, bevor sie sich nach oben begab. Anhand des Gepolters konnten die Senioren und die junge Maenner exakt verfolgen, in welchem Teil sie sich gerade aufhielt - als wuerde sie dort nachtraeglich den Bergrutsch nachempfinden. Nach knapp vierzehn Minuten kam sie langsam die Treppe wieder herunter, schneeweiss und knittrig im Gesicht. Es war zuviel. "Kim", machte der Bruder sanft. "Du solltest dich hinlegen. Bitte!" "Und der?" Sie deutete auf Mike. "Wir passen auf!" versicherte Olga. "Ihr habt hoffentlich den Schluessel fuers Gaesteklo nicht verloren?" "Na, hoer mal", fing Mike, der sich bis dahin eher zu amuesieren schien, an sich zu wehren: "Darf man fragen, wer oder was Ihnen das Recht gibt...?" Weiter kam er nicht. Beim Klang seiner Stimme baeumten sich Kims Lebensgeister auf, impulsiv drehte sie ihm den Arm auf den Ruecken und bugsierte Mike, der sich vor Ueberraschung kaum wehrte, unsanft ins Gaesteklo. "Er hat bestimmt alles geloescht, aber sucht ihr bitte weiter und ueberlegt, wo er sein iPhone versteckt haben koennte?" bat sie kraechzend, bevor sie sich auf der Couch in eine Decke einrollte und die bereits bekannten Schlafgeraeusche von sich gab. Die alten Leutchen sahen von sich auf Kim und dann wieder zurueck. "Was hast uns fuer eine Enkeltochter besorgt, sag mal?" wollte Roko mit erhobenen Augenbrauen wissen. "Tu nicht so, als wuerde es dir nicht gefallen", erwiderte sie glucksend. Sie wandte sich dem Bruder dieser Sensation zu: "Wir suchen sein iPhone. Wo war er, wenn ihr nicht beisammen ward: draussen, aufm Dach, Luft schnappen?" Der schlug sich mit der flachen Hand an die Stirn: "Stimmt, ist immer freiwillig Holz holen gegangen, obwohl er laut Kim noch fauler ist als ich. Soll ich Ihnen zeigen, wo...?" "Nix", fiel Olga dem jungen Mann ins Wort. "Quetsch deine Matratze vors Gaesteklo und schlaf dich aus. Deine Schwester macht aus uns allen Kleinholz, wenn er entwischt - erst brauchen wir das Dingsbums. Und hier wird geduzt, klar: we are family. Have a nice nap." Und zu Roko gewandt: "Kommst mit, Alder?" Sie fanden das iPhone in einem gut verschlossenen Gefrierbeutel hinter einer losen Platte rechts neben der Huette, hatten dieser Ecke besondere Aufmerksamkeit geschenkt, da dort offenbar das Holz gehackt wurde. Leider war es gesperrt. Nicht sonderlich technikaffin beschlossen sie eintraechtig wie selten, im Esszimmer zu warten, bis die Geschwister zu Ende geschnarcht hatten. Sie selbst waren ausgeschlafen und hatten Zeit. Dachten sie, bis es dezent an der Tuer klopfte. Konsterniert sahen sie sich und dann die Tuer an und beeilten sich, diese zu oeffnen und von aussen hinter sich zu schliessen, bevor das Objekt auf dem Klo aufmerksam werden konnte. Es waren zwei Polizeibeamte, die nach dem Rechten schauen wollten, korrekt mit Gesichtsmasken ausgestattet: "Wir haben das Auto oben gesehen, das muss ja eine tolle Talfahrt gewesen sein. Alles in Ordnung bei Ihnen?" Die Maskierung brachte Roko auf die Idee, sich mit vollem Namen und Titel vorzustellen, bevor er die Frage wahrheitsgemaess antwortete: "Nicht ganz." Einen warnenden Zeigefinger vor den geschuerzten Lippen, entfernte der Gelehrte sich noch mehr vom Hause - fast auf Zehenspitzen trippelte das uniformierte Paar respektvoll rueckwaerts, darauf bedacht, den zwei 2-Meter-Abstand nicht zu veringern. Roko, dem das verraeterische Zucken um Olgas Mundwinkeln nicht entgangen war, beeilte sich zu erlaeutern, er sei im Auftrag der Corona-Gruppe unterwegs. "Ich habe einige Virusproben der in unserer Klinik liegenden Franzosen mit dabei, soviel darf ich verraten, stand ja in allen Zeitungen. Es waere gut, wenn sich dennoch alle sicherheitshalber fernhalten wuerden - wir haben alles, was wir brauchen. Ach, und vielleicht richten Sie dem Muenchner Klinikum aus, ich kaeme zeitnah - meine Enkelkinder sind unerwartet aufgetaucht. Danke!" Begeistert salutierten die Beamten, machten auf dem Absatz kehrt und kraxelten zuegig den Hang wieder rauf, kein Zweifel daran lassend, dass alles bis genaustens ausgefuehrt werden wuerde. Das war zu viel fuer Olga, mit fliegenden Haaren brachte sie die Tuer der Huette zwischen sich und der Aussenwelt, bevor sie in ein herzhaftes Gelaechter ausbrach. Fast haette sie Kim umgerissen, die widerwillig schmunzelnd, wissen wollte, was los war. Roko, der langsamer gefolgt war, hoerte sich kopfschuettelnd die Version von Drama Queen Olga an. "Virusproben?" hob Kim die Augenbrauen. "Was die Leute alles glauben, wenn jemand mit einem Titel wedelt." Der Professor verwahrte sich gegen die Unterstellung, gelogen zu haben. "Im Alukoffer sind tatsaechlich Proben der Franzosen, die bei uns liegen; Muenchen moechte sie mit den bereits vorhandenen vergleichen. Schon mal von Mutationen gehoert? - uebrigens, hast das gesucht?" hielt er ihr wie ein Magier das Smartphone hin. "Leider gesperrt." Nach kurzer Inspektion stellte Kim fest, dass das iPhone nur via Fingerabdruck zu entsperren war. "Mikes Fingerabdruck, um genauer zu sein - ich entsinne mich, ihn ein paarmal dabei beobachtet zu haben. Kein Problem", setzte sie mit glitzernden Augen hinzu, "wir tun ihm etwas in den Wein." Olga nahm erfreut das Woertchen 'wir' zur Kenntnis, waehrend Roko wieder mal mit dem Kopf wackelte und anfing, gelehrt an seinen Fingern abzuzaehlen: "Das waeren dann bloss mal eben unerlaubtes Parken, Koerperverletzung, Freiheitsberaubung, Diebstahl, Vergiftung..." "Und?" unterbrach Olga seine Liste. "Gib her, ich mach's rein - I'm too old to get eingesperrt anyway." "'Locked in' waer der korrekte englische Begriff - ausserdem sperren die notfalls auch Hunderjaehrige ein", half Roko herablassend. "Weet ick", konterte sie. "Wollte erstens eine Verwechslung mit dem Coroner Lockdown vermeiden, zweitens moegen auch Polizisten aeltere Frauen lieber, nachdem es euch alten Maennern perfekt gelungen ist, euch zu blossen #Boomer zu degradieren." Der Enkeltochter dieser Streithaehnen fiel es sichtlich schwer, ernst zu bleiben: "Ihr seid unmoeglich, wirklich. Das Zeug ist im Bad oben, geschmacksneutral und fast ewig haltbar, Klaras letzte Wochen waeren ohne sehr schmerzhaft gewesen." Beim letzten Satz musste sie ihre Stimme heben, um den einsetzenden Krach des Klo-Objekts zu uebertoenen. Sie sahen sich an. "Aufs Klo will er bestimmt nicht", riet Olga altklug. "Rauslassen und fesseln! Was ist mit den Autoschluesseln, sind sie an einem sicheren Ort? Die naechste bewohnte Behausung ist eine gute halbe Stunde mitm Auto, allerdings nur wenn man weiss, wohin - zu Fuss schafft der das nicht ohne Ortskenntnisse und gutes Schuhwerk - zumal es hier im tiefsten Wald in wenigen Stunden dunkel wird." Kims: "Woher weisst du?" wurde von ihr Bruders: "Lasst uns erst mal gescheit essen!" zugedroehnt, der unten an der Treppe stand und verhungert aussah. Fruehstueck gab es etwas spaet um 13 Uhr, dafuer umso reichlicher. Weil er zuerst eingetrudelt war, schien Daniel sich als Gastgeber zu betrachten und musste viermal hin und her: sobald etwas leer war, verschwand er und kam mit irgendwas anderem wieder. Mikes Knoechel hatten sie vorsichtshalber mit Nylonstrumpfhosen an den vorderen Beinen seines Stuhles festgebunden. "Aehm", glaubte das Objekt/Subjekt, protestieren zu muessen. "Euch ist hoffentlich klar, dass das ein Nachspiel haben wird? Es ist nur eine Frage der Zeit, bis die Polizei hier sein wird, eine Reihe von Freunden wissen genau, wo ich bin und duerften sich allmaehlich Sorgen machen." Niemand lachte. "Aehm" aeffte Olga, "ich weiss nicht, wie ihr das sieht, aber ich moechte in Ruhe zu Ende speisen - wir koennten eventuell vorhandene Krachmacher ja wieder einfachheitshalber irgendwo einsperren..." Darauf hatte der Krachmacher dank der eigenartigen Stimmung am Tisch wenig Lust: ausgesucht hoeflich und doch extrem verfressen sassen sie am Tisch wie Komoedianten auf einer Kindergeburtstagsparty. Nur Olga schien sich zusaetzlich ueber irgendwas koestlich zu amuesieren, zappelte, kicherte und trat wahllos unterm Tisch, was ihr von allen Seiten unwirsche Blicke eintrug - selbst von Mike, der demonstrativ stumm neben ihr sass, um keinen Rausschmiss zu riskieren. Hin und wieder stand die alte Frau auf und taenzelte mit Weinglas oder Weinflasche zur Kueche und wieder zurueck. "Olga", machte Roko vorwurfsvoll. "Jawoll, Herr Professor - was kann ich armselige Sterbliche fuer Eure Hochwohlgeborene tun?" "Eventuell solltest du deine Trinkgewohnheiten ein wenig ueberdenken?" schlug der vor. "Der Wein hat jede Menge Zucker und..." "Du hast ja sooo Recht," unterbrach sie kichernd. "Prost, Kinners, auf alle abwesende Zuckerruebenbauer des Hohen Nordens!" "So!" schien Olga genug von den eigenen Possen zu haben, als alle sich satt gegessen hatten und dennoch sitzen blieben. "Ich stelle hiermit fest, dass das Objekt sich nach wievor weigert, den Standort seines Dingsbums zu verraten, und waer dafuer, wir raeumen ihn erneut aufs Klo. Was haltet ihr davon? Alle, die nicht die Hand heben, werden mit ihm eingesperrt." "Das war wohl wieder ein Wort mit X", verkundete Daniel, als sie sich nach dem Abwasch, diesmal ohne Mike, alle um den Esstisch wiederfanden. Er setzte nach einem Blick in Olgas Richtung troestend hinzu: "Nicht weiter schlimm, kann ja nachher eine Flasche Rotwein ins Klo schmuggeln, zusammen mit einigen Decken und Kissen - immerhin waren wir mal gemeinsam auf einer einsamen Insel, vielleicht vertraut er mir." "Wieso?" wollte Olga wissen. "Die Decken? Es wird nachts ziemlich kalt, nicht nur um diese Jahreszeit." "Meinte das Wort mit X - 'nix' nehme ich an? Denkt ihr wirklich, er ist so bloed und trinkt etwas anderes ausser Wasser direkt aus der Leitung oder nascht auch nur ein Stueckchen Butter, ohne dass wir vorher daran geleckt haben?" "Will heissen?", fragte Roko ungeduldig. "Klartext, bitte, Olga - die jungen Leute moechten bestimmt noch Schlaf nachholen." "Will heissen, dass offenbar niemandem aufgefallen ist, dass der Rotwein meine Lippen allenfalls ein wenig nass gemacht hat, das suesse Zeug ist naemlich nicht mein Fall", versuchte die alte Frau, nicht allzu triumphierend auszusehen. "Die rote Bluse war eine glueckliche Fuegung." "Reicht die Menge?" verstand ihre Enkeltochter als erste. Und dann: "Deswegen haettest mich nicht staendig treten muessen. Echt!" "Klar reicht's. Das Objekt braucht einstweilen weder Decken, Kissen noch Nylonstrumpfhosen. Lass uns aber sicherheitshalber warten, bis er vom Klo runterfaellt, okay? Ach, war das dein Bein?" grinste sie Kim spitzbuebisch zu. "Bisschen vom Wein musste ich ja unauffaellig verschwinden lassen, die besoffene Zappelei und Treterei war eine gute Ablenkung." Kim rollte ihre Augen. "Stimmt, er war zum Schluss noch droeger als sonst, ist sogar ohne Widerspruch aufs Klo gegangen. Weckt mich wenn es rumst, bitte. Hast gut gemacht", musste sie widerstrebend zugeben, bevor sie gaehnend aufstand und sich ohne weitere Worte auf ihren Stammplatz auf der Couch einrollte. Und weg war sie. "Kannst du das auch?" wandte Roko sich mit erhobenen Brauen an den Bruder dieses Einschlafwunders. "Nein", musste der neidvoll zugeben. "Aber Vorsicht, sie kann auch im Schlaf noch zuhoeren." "Du selbst siehst aber nicht muede aus?" versicherte sich Olga hoffnungsvoll. "Bin putzmunter. War nicht eine Woche im Keller eingelocht." Mit einem klickenden Geraeusch ihres Gaumens verschwand Olga nach oben und kam mit vier Fotoalben wieder: "Ehrlich gefunden!" Erst nach einer Viertelstunde hoerten sie es nebenan rumpeln und eilten hinaus, Kim, deren Ohren offenbar tatsaechlich auf Dauerempfang waren, im Schlepptau. Der Inhalt von Mikes iPhone war nichtssagend. Sein Bekanntenkreis war zwar gross - Kim stellte aufschnaubend fest, dass er ihre Freunde nahtlos in Gruen uebernommen hatte -, chatten oder einfach Emojis austauschen war aber nicht drin. Nicht einmal mit seiner Schwester. Seine letzte halbwegs persoenliche Nachricht ging an die Putzfrau, die er grossspurig Haushaelterin nannte und einmal im Monat reinschaute: vor fuenf Wochen hatte er sie fristlos gekuendigt mit der Aufforderung, seine Schluessel binnen 24 Stunden in den Briefkasten zu werfen. Die restlichen betrafen Leute, denen er Geld schuldete und entweder vertroestet oder abgewimmelt hatte. Keine persoenlichen Notizen, keine Fotos. Nur Termine mit mysterioesen Abkuerzungen. Nicht einmal Geburtstage. Die letzten anonymen Nachrichten an Kim waren unauffindbar, aber im Grunde nicht mehr notwendig. "Mit sowas warst zusammen?" sah Daniel seine Schwester verbluefft an. "Ein Katalog mit Unterwaesche fuer Menschen im fortgeschrittenem Alter stell ich mir spannender vor." "Nicht so voreilig, junger Mann", versuchte Olga eine Mae-West-Parodie, ihre rote Bluse mit beiden Haenden seitlich aufreizend langsam glatt streichend, Rokos Missbilligung zum Trotz. Kim, die neben ihrem Bruder sass und lautlos mitgelesen hatte, sah ihren Bruder indigniert an. "Hoerst auch mal zu, wenn man mit dir redet? 'Ein Stoffel', habe ich monatelang vergebens versucht dir einzubleuen, oder hast ihn zum Begucken von Omastrapsen nach Bayern mitgeschleppt?" Der hob ergeben beide Haende: "Okay, krieg dich wieder ein, er ist wohl nur charmant, wenn er was will - bin auch auf ihn reingefallen." "Lasst uns wie andere normale Leute nachts schlafen und den Kaiser" - Kim sah auf den selig dahinschlummernden Stoffel, den sie auf drei Stuehlen verteilt hatten - "wieder auf den Pisspott setzen, wo er hingehoert". "Der kaiserliche Vergleich hinkt", beanstandete Olga nach erfolgtem Umzug. "Nicht der Fischer war der Uebeltaeter, sondern seine Fru. Was hast du vor, o holde Ilsebill?" "Gute Nacht." Es dauerte, bis der Pisspottkaiser wach wurde; diese Zeit nuetzte Kim wie immer horizontal, waehrend die Oldies mittels Fotoalben und Daniel ihre grosselterlichen missing pieces eingesetzt bekamen. Rokos Interesse fuer Kindheit und Jugend des einzigen Sohnes und der einzigen Enkeltochter war nicht geringer als das von Olga, aber irgendwann war sein Speicher voll. Gaehnend erkundigte der Opapa sich nach Kims Lieblingsgericht und wurde hellwach nach dem Hinweis vom Gaertner Daniel, nicht nur genuegend Tomaten, Karotten, Zwiebel und Kraeuter aus Salten mitgebracht zu haben: "Im Vorratsraum sind reichlich Rindfleischdosen, die nur minimal abgelaufen sind." Haendereibend verschwand der alte Mann in der Kueche. Nachdem die Tomatensosse eine Weile sanft vor sich hingebrutzelt hatte, gesellte Kim sich zu ihm, schnueffelte und machte: "Hm hm." "Ich kann das", versicherte Roko, als ihm klar wurde, dass sie hier Wurzeln schlagen wollte. "Stoer ich?" Es klang nicht besorgt. Roko bedankte sich im Stillen bei seinem Sohn: mein Gott, er hatte einen Sohn! -, der es offenbar nicht versaeumt hatte, seine Kinder mit Selbstbewusstsein zu versorgen. Er machte sich nicht die Muehe zu antworten, und fuhr fort, die Sosse abzuschmecken, dabei schmatzende Geraeusche von sich gebend. "Hm, ausser stundenlang Koecheln fehlt wieder was." Er tauchte einen sauberen Loeffel in die Sosse, ihn nach ausgiebiger Pusterei Kim hinhaltend: "Mund auf!" Sie gehorchte, ihrerseits schmatzend, den Kopf schraege haltend, wie ein lauschender Vogel: sie war seine Enkeltochter und wunderschoen - wie bald wuerde er wieder Gelegenheit haben, das festzustellen? "Nun?" "Zimt." Er klatschte sich an der Stirn. "Aber natuerlich!" Er schaute sich im Gewuerzfach um, fand, wuerzte und probierte. "War auch mein Leibgericht, konnte meine Frau perfekt kochen, was vor allem dann geschah, wenn ich kurz vorm Umkippen war. Merci." Sie hatte ihn mit der gleichen unverfrorenen Aufmerksamkeit begutachtet wie er sie. Sie laechelten sich zu. "Wie haettest du als junger Vater reagiert, mal ehrlich jetzt?" Er seufzte, verstand sofort. Die Frage war ihm staendig im Kopf herumgespukt, seit er von seinem Sohn erfahren hatte. "Die Hexe hat nicht Unrecht. Ich habe Olga uebrigens durch Elisabeth, meine Frau, kennengelernt - fast gleichzeitig eigentlich", wich er scheinbar aus. "Elisabeth? Mochte sie keine Spitznamen?" Er laechelte erneut: wer ausser seinem eigenen Fleisch und Blut konnte eine solche Frage stellen - nicht einmal Elisabeth hatte ihn das jemals gefragt. "Doch, aber ich nicht. Sag bloss", weitete sich sein Laecheln zu einem breiten Grinsen, "du auch?" Ohne ihre Entgegnung abzuwarten, setzte er seine umstaendliche Antwort auf ihre Frage fort: "Beim Studium in Berlin hatten sie sich von Anfang an ein Zimmer geteilt und wider Erwarten ausgezeichnet verstanden. Zwei so gegensaetzliche Frauen habe ich selten kennengelernt. Elisabeth war eine dieser stillen, wenn auch keineswegs grauen Maeuschen, die immer irgendwo im Hintergrund sitzen und lesen oder naehen; am liebsten haette sie gestrickt, wollte aber die Gespraeche nicht stoeren. Das genaue Gegenstueck von Olga also, die gerne ihre Mitmenschen herumschubst - natuerlich zu deren Besten. Unsere Vermaehlung war ein gutes Beispiel hierfuer, Olga hing sehr an meiner Frau - fast wie an einem Gluecksbringer, und doch haette Elisabeth ihr Studium ohne Olgas Unterstuetzung oder besser Einmischung nie hingeschmissen." "Weiter", machte sie nur. "Du willst wissen, wie es dazu kam - es war tatsaechlich ein Ausrutscher. Elisabeth war fuer einige Wochen nach Hause gefahren, um die Hochzeit vorzubereiten - sowas liegt mir nun mal nicht, und sie war froh, es mir recht machen zu koennen. So war sie. Ihre Familie hatte urspruenglich was anderes fuer sie geplant: Studium und dann Beamte, und sie selbst hatte nie etwas dazu gesagt, also geschah es. Tja, Eltern, Grosseltern, Tanten und Onkel - alles Beamten..." "War es damals nicht ueblich, alles hinzuschmeissen, sobald ein vielversprechendes Mannsbild ernste Absichten hatte?" Sie entnahm einer seitlichen Kammer einen Topf, kippte das broedelnde Wasser rein und fuellte den Kocher erneut. Es war ein Trumm von Pott, Roko schaltete die zwei Gasflammen darunter an. "Schon. Wie soll ich sagen? Sie war nie gerne Student gewesen, konnte weder mit ihren freigeistigen Gleichaltrigen noch mit den Blaustruempfen etwas anfangen. Und doch haette sie die fehlenden Semester alle zu Ende studiert und auf mich gewartet. Olga fand das selten daemlich und sagte es auch, hat sich Weihnachten bei Elisabeth untergehakt und das mit deren Familie gedeichselt. Einfach so. Du haettest mal erleben sollen, sie erleichtert und froh Elisabeth danach war; seither war sie komplett auf Familienleben und Kinder eingestellt, und vor allem waehrend unserer ersten Ehejahren uebergluecklich. Mit Emanzipation hat das nichts zu tun, so war sie." "Und dann?" Sie fing an, die restlichen Dosen mit Rindfleisch aufzumachen. "Fuenf Fehlgeburte." Er musste schlucken, die Emotionen, die bei diesen zwei Worten hochkamen, wegdraengen. "Tut mir Leid. Adoption?" "Adoptieren kam fuer sie nicht in Frage, sie war der Ansicht, es wuerde ihr bei 'fremden' Kindern an Bauchgefuehl fehlen und sie klaeglich versagen: eine halbe Mutter wollte sie keinem Kind zumuten. Hab mein Bestes gegeben, ihr das auszureden - nix zu machen. Aber zurueck zum Thema: Elisabeth war scheusslich eifersuechtig, nur auf Olga nicht - der vertraute sie restlos. Ich bin mir nicht sicher, ob sie Olga jemals verziehen haette." Er zoegerte, bevor er leise hinzusetzte: "Oder mich." "Wie kam es dazu?" Er zog die Schultern hoch. "Wir waren eine kleine Gesellschaft, einige von uns mit dem begehrten Diplom endlich in der Tasche. Fast alle waren blau, ich erinnere mich nur noch an Fetzen und habe Jahrzehntelang geglaubt, ich haette es getraeumt. Verdammt, man hat Olga nicht das geringste angemerkt, sie war Wochen spaeter Brautjungfer und ist in all den Jahren immer fuer Elisabeth dagewesen. Hab sie nach jeder Fehlgeburt heimlich angerufen, weil sie als einzige in der Lage war, sie zu beruhigen." "Er ist wach!" platzte Daniel in das Gespraech. "Deswegen bin ich aber nicht hier, wenn ich ehrlich sein soll. Im ganzen Haus duftet es himmlisch, und wenn nicht bald etwas geschieht, garantiere ich fuer gar nichts und fang an zu singen!" Statt zu antworten fing seine Schwester auf diese Drohung sofort an, den Tisch zu decken, worauf Daniel sich haendereibend daranmachte, ihren Gast aus dem Klo zu befreien. Als alle mit dreiviertel geleerten Teller um den Tisch sassen und schmatzten, platzierte Kim ihre Bombe so emotionsfrei auf den Tisch, als verkuende sie, einen Job ergattert zu haben, der zwar doof ist, aber wen kuemmert's: Eine Weile sagte niemand etwas. Sie assen weiter, als wuerden sie das eben Gehoerte ueber den Gaumen pruefen wie ein exotisches Gericht. "Aha", gab Olga als erste ein Lebenszeichen von sich. "Hm", schloss sich Roko sofort an. "Und warum, wenn ich fragen darf?" forschte Daniel, leicht verbittert darueber, seine Verdauung so mitten drin gestoert zu bekommen. "Genau!" stuerzte Mike sich auf diese erste vermeintlich zu seinen Gunsten vorgebrachte Einwand. "Ich habe dir nichts getan, der kleine Scherz im Keller war von dir ausgeknobelt und urspruenglich mir zugedacht gewesen." Er holte Luft: "Schoen uebrigens so nebenbei zu hoeren, dass deine sogenannte Amnesie sich verfluechtigt hat, aber wenn du glaubst..." "Von welchem kleinen Scherz ist hier die Rede?", schnitt Olga ihm mit arktischer Kaelte das Wort ab. Kim erklaerte es in wenigen Worten, Gesicht und Koerper voller Abwehr, aber entschlossen es hinter sich zu bringen. Sie setzte kraechzend hinzu: "Mein Streich sollte das Weekend nicht ueberdauern, nicht mal zwei Tage also - und nicht eine ganze verdammte Woche!" "Dir haben wir es also zu verdanken", brachte Daniel, der kreidebleich geworden war, "dass Paps gestorben ist? Du hast gewusst, der ist krank und haust trotzdem ohne ein Wort ab, du Arschloch!" "Hat er von deiner Weinallergie gewusst?" wollte der Mediziner schmallippig wissen. "Ja doch", beeilte sich Mike, weiteren Beschuldigungen zuvor zu kommen. "Aber woher haette ich wissen sollen, dass kein Wasser im Keller ist?" argumentierte er wie ein Geschaeftsmann mit den besseren Karten. "Du denkst wohl, mir ist die Verwanzung der Kellerraeume entgangen?" schoss Kim zurueck. "Keinen Schritt, keine Bewegung konnte ich machen, ohne dass du's erfahren hast. Und zwar nicht nur im Keller, sondern im ganzen Haus seit dem Tag deines Einzugs." "Beweise es!" sprang Mike trotz Fesseln auf die Fuesse, triumphierend auf sie heruntersehend wie eine Goetze. "Setzen!", bellte Olga, ihn gleichzeitig einen Stoss versetzend, dass er ohne Wand mitsamt Stuhl hintenueber gekippt waere. "Mir reicht das Wort meiner Enkelin. Menschen, die in ihrem Adressenbuch blosse Initiale und keine Geburtstage fuehren, sind mir suspekt!" "Dito!" sekundierte Roko. "Genau!" kam es fast gleichzeitig von Daniel. "Was?" lachte Mike falsch auf. "Ihr habt mein iPhone also gefunden und geknackt. Das wird euch teuer zu stehen kommen - was wollt ihr machen: mich in einen Gletscher schubsen, Oetzi der Zweite oder was?" Er lachte nochmal, diesmal laenger, wie um zu zeigen, dass er es konnte. "Covid 19", sagte Kim nur. Olga, Roko und Daniel starrten sie an, sich an und dann Mike an. Der schien das als Aufforderung zu deuten. "Covid 19?", wiederholte er hoehnisch. "Ich soll also mit einem Virus gerichtet werden? Du hast sie nicht alle! Ich verlange, dass ihr sofort mein iPhone rausrueckt und dann koennt ihr euch auf eine Anzeige gefasst machen, die seinesgleichen sucht!" Roko sprach langsam: "Zuerst essen wir zu Ende. Dann macht ihr den Bloedmann etwas ordentlicher fest, aber bitte nehmt wieder alte Nylonstruempfe, deren Abdruecke verschwinden naemlich besser, und binde sie flach ueber die Kleidung", seine Anweisungen hoeflich und korkentrocken. "War eine ganze Reihe von Jahren in der Pathologie, fein, dass sich das mal auszahlt." Mike sass fest wie in einem Kokon, als Roko die Treppe herunterkam und den Alukoffer auf den Tisch stellte. Der Professor liess sich Zeit bei der Suche und entschied sich schliesslich fuer eine graue, versiegelte Ampulle. "So. Der waere geeignet: sehr virenlastig, also schnell und gruendlich." "Also, wenn ich fuer den Moerder meines Sohnes", Olgas Stimme klang seltsam bruechig: es war das erste Mal, dass sie ihren Sohn als ihren Sohn ausgab, "die Wahl zwischen schnell und gruendlich und langsam und schlampig haette, ich wuerde letzteres nehmen." Rokos Augen wanderten von Olga zu seiner Enkeltochter, die beide pure Entschlossenheit ausstrahlten, achselzuckend beugte er sich erneut ueber den Koffer und tauschte stillschweigend die Ampullen aus. "So. Wir brauchen einen Plan, oder will jemand selbst mit dem da" - er schuettelte die Ampulle leicht - "in Verbindung kommen? Vorschlaege?" Mike, der hoelzern von einem zum anderen guckte wie jemand, der sich in einem Alptraum waehnt, den er im Grunde fuer absurd hielt, meinte vorsichtiger: "Wie wollt ihr das Fehlen einer Ampulle erklaeren? Denkt ihr echt, ihr kommt damit durch? Das waere Mord, wenn es klappen sollte - ich kann ja auch ueberleben, bin jung." Kim: "Wuerd mich an deiner Stelle nicht darauf verlassen. Vorteilhaft sind gute Gene, Gesundheit und Fitness, eine grosse Klappe eher nicht. Im Gegenteil." "Oh, wie reizend", hatte Olga beide Brauen oben, "das Objekt macht sich unsertwegen Sorgen." Roko war fuer Spaesse nicht in der richtigen Stimmung: "Das sind ausgesuchte Ultraproben. Ein Wattenstaebchen hier rein" - er hob die Ampulle - "und dann in die Nase, leider ziemlich weit hoch, aber keine Panik", beruhigte er Mike, "ich habe Erfahrung und bin vorsichtig. Merkt niemand." "Aber jedes Kind weiss doch, dass die diversen Mutationen ihren eigenen Stempel haben", beharrte Mike. "Kann man leicht bis nach Salten verfolgen." "Das lass mal meine Sorgen sein", wurde Roko ungeduldig. "Koenntest du eine Weile die Klappe halten oder moechte seine Majestaet lieber wieder auf den Pott? Wir haben einiges zu bereden, bevor es losgeht." Ruhig besprach die Gruppe, wer was zu tun hatte, waehrend Mike dasass, als haette er die Armen uebereinander geschlagen, eine Haltung, die ihm dank Perlonstruempfe nicht moeglich war. Dann sackte er weg. "Nanu?" hatte Roko die Brauen wieder oben, Olga einen vorwurfsvoll wackelnden Zeigefinger hinhaltend. "Hast du ihm etwa wieder was reingetan? Dass mir das nicht zur Gewohnheit wird." "Nur ganz wenig", gab sie zu und erhob sich. "Wir koennen also in Ruhe packen, Spuren verwischen und derlei - macht man in Krimis so", belehrte sie. Roko schien nachzudenken. "Du meinst, den Dummkopf infizieren und einfach hier lassen?" Den Kopf schraeg, starrte er fragend von Olga zu Kim: "Keine schlechte Idee, oder? Wir koennten alles Ess- und Trinkbare wegschaffen und das Wasser so abstellen, dass er es nicht wieder anmachen kann. Ausgleichende Gerechtigkeit nennt man das." Er warf einen Seitenblick auf seine Enkeltochter: "Ob du ihm ein wenig trockenen Wein oder Essig dalassen willst, bleibt dir ueberlassen. Geht das mit'm Wasser, Frau Handwerker?" Es ging. Es ging vor allem schnell, niemand schien laenger als notwendig bleiben zu wollen. Nicht einmal Daniel, dessen Traegheit wie weggeblasen war. Innerhalb einer Stunde waren sie startklar. "Prima", aeusserte sich Stadtpflanze Olga, sichtlich erleichtert, Mutter Natur verlassen zu koennen. "Alle einsteigen - soll ich fahren?" "Nein!" kam es unisono von Kim und Roko. "Tz", oeffnete sie die Beifahrertuer, den Sitz weit nach vorne verstellend, damit die junge Leute mehr Platz hatten. "Denn nicht, liebe Tanten!" "Kim?" hielt Roko die junge Frau am Aermel, waehrend der Rest einstieg. "Ja?" "Bist du sicher?" "Soll ich es machen? Verstehe ich vollkommen, dir ist bestimmt dein Hippokratischer Eid im Wege." Sie schien die Frage erwartet zu haben, verzog ein wenig den Mund, bevor sie hinzusetzte: "Hab paar Semester Medizin studiert, bevor mir klar wurde, dass Holz mir lieber ist." Er schuettelte den Kopf: "Das meinte ich nicht. Etwas mehr Vorbildung und vor allem Praxis ist manchmal nicht uebel, wenn spaeter nichts nachweisbar sein soll. Steig schon mal ein, bin in zehn Minuten wieder bei euch", setzte er mit fester Stimme hinzu. Der Beschluss, Olgas Wagen zu nehmen, war alternativlos, Daniels Auto war einige Meter weiter den Hang heruntergerutscht und nicht von der Stelle zu bewegen - nicht einmal anspringen tat das schnittige Teil. Der junge Mann war vorher trotz Muedigkeit nochmal heruntergestelzt, geistig damit beschaeftigt, sich vor einer ganz anderen Aufgabe zu grausen, die ihm bevorstand: Werkstaetten anrufen, Preise vergleichen, feilschen, und mit geliehenen Autos hin und her fahren, um nach den Rechten zu sehen. Und das waehrend einer Pandemie. "Der Bengel denkt daran, sich zu bewegen", pflegte Paps zu unken, wenn er die Gaehngeraeusche Daniels hoerte. "Wir sollten uns in Sicherheit bringen." "Neuwertiger E-Sportwagen guenstig abzugeben, liegt umstaendehalber an einem pittoresken Hang in Bayern, alles inkl. Ferien in einer rustikalen abgelegenen (geniessen Sie es, mal nicht Abstand halten zu muessen) Huette direkt daneben. Besichtigung und Abholung bitte eigenstaendig vornehmen, danke." Seine Schwester wuerde ihm nicht helfen, war derzeit weder gesundheitlich noch sonst in der Lage und hatte Paps immer ermahnt, dem Jungen nicht staendig zu pampern. Ja, Paps... erst jetzt traf ihn die Verlust eines Mentors und guten Freundes, der stets fuer ihn dagewesen war, mit voller Wucht. Mit halbem Ohr hoerte er zu, wie Olga versuchte, Kim - mein Gott, ja, war ja ein Maedchen, muss man helfen, klar - zum Bleiben in ihrem Haus zu ueberreden: die ungute Erinnerungen, der Keller, die Polizei, die dort gewiss oefters aufkreuzen wuerde... "Keine Sorgen", wehrte seine tapfere Schwester etwas grossspurig ab. "Paps hat uns gut versorgt, das alte Haeuschen am Rande von Salten ist abbezahlt, so viel ich weiss, besten Dank." Das war zuviel. "Vonwegen. Nichts Paps", ritt Daniel irgendein Teufel, "Olga hat uns all diese schoene Dinger besorgt. Eigentlich logisch, du muesstest eigentlich wissen, was eine Tischlerei finanziell so vermag und was nicht, liebe Schwester. Du kannst also genauso gut zu ihr ziehen, ist gehuepft wie gesprungen." Dann, mit gepresster Stimme: "Woher willst du Trantuete das wieder wissen?" Trantuete?! Er war nicht empfindlich und den Spitzen seiner aelteren Schwester gewohnt, aber sowas jetzt, wo er sich im absoluten Alarmzustand befand und dann noch vor Zeugen - das war zu viel. "Aus dem Testament von Paps, stell dir vor", schnappte er. "Dort bittet er uns um Verzeihung, so lange geschwiegen zu haben - es hat sich halt so ergeben beziehungsweise nicht ergeben. Erwaehnt uebrigens auch eine groessere Summe, die er sich von deiner verschmaehten biologischen Grossmutter geliehen hat, hat leihen muessen, als sich herausstellte, dass die biologische Mutter seiner kostbaren Tochter entschlossen war, dich abzutreiben." "Moment", fiel ihm Olga ins Wort. "Er hat damals nicht gewusst, dass das Geld von mir stammte, meine Schwester hat es ihm erst sehr spaet verraten - kurz vor ihrem Tod, wenn ich richtig informiert bin."; "Halte bitte sofort an!" zischte Kim. Klar doch. Sie fuhren auf der Autobahn, 'sofort' konnten sie knicken. Bei der naechster Auffahrt betaetigte Roko den Blinker. "Nicht!" protestierte Olga. "Verdammt, Roko, sie ist noch lange nicht uebern Berg!" Er bog ab. "Bitte!" setzte Olga muehsam hinzu. Sie sass stocksteif auf dem Beifahrersitz, eine Hand an der Autotuer, als koennte sie so alle Tuere zuhalten. "Sorry", Roko starrte stirnrunzelnd nach rechts bei den Geraeuschen des vergeblichen oeffnen der linken Tuer hinten. "Olgachen", machte er sanft. "Wie sagstest du, als es mit Elisabeth zu Ende ging: Loooslassen." "Very funny!" schnaubte sie auf. "Mein ganzes Leben ist ein einziges Loslassen!" Wuetend entriegelte sie mit einem doppelten "Tock, tock" die Kindersicherungen hinten. Vorne sassen ueber hundertsechzig Jahre ohne Worte und ohne sich zu bewegen, waehrend Kim mitsamt Rucksack ausstieg. "Macht euch keine Sorgen!" kam es reuevoll von hinten, sobald ihre Gestalt grusslos davongeeilt war. "Ich lass sie nicht aus den Augen, versprochen. Was fuer ein beschissener Tag", setzte er entschuldigend hinzu, ebenfalls seinen Backpack umwerfend. "Dein Auto macht dir Kummer?"heischte Olga, die sich waehrend Kims und Rokos Intermezzo in der Kueche mit dem jungen Mann unterhalten hatte. "Lass Papiere und Schluessel hier, mail mir eine Blankovollmacht und ich erledige das. Und melde dich bitte! Meine Nummer hast du ja." Zu aufgebracht, sich auch nur umzudrehen, konnten die alten Leutchen hoeren, wie etwas auf den Ruecksitz abgelegt wurde: haette der Luemmel mit dem Testament nicht warten koennen, verdammt?! "Danke, Olga!" kam es vom Herzen. "Bis die Tage!" "Hast du ihm das beigebracht?" wollte der Fahrer wissen, als sie bereits eine ganze Weile dahinfuhren, als saessen sie in zwei verschiedenen Autos. "Was?" "'Bis die Tage!'", zitierte er, affektiert ihre kraechzende Stimme imitierend. Ohne hinzusehen wuchtete sie ihm ihre mit einigen Flaschen Painkillers schwere Handtasche an der Brust. "Das erzaehl ich Elisabeth." VII. versenk's in den teich Salten ist eine schoene kleine Stadt. Wie tausende andere - etwas stiller wohl dank der kompletten Verkehrsberuhigung. Das Besondere waren die Saltener selbst. Welche Stadt kann das von sich behaupten - und wenn, spricht das eher gegen die Stadt oder fuer deren Bewohner? Vor dem letzten Weltkrieg noch ein prachtvolles Schloss mit Tuermchen und Zugbruecken und schrulligen Schlossbewohnern, entfachte ein urspruenglich Hamburg zugedachtes Boembchen ein Feuer: lichterlohe Aufforderung genug fuer weitere Bomben, bis vom Schloss nur das U uebrig war, das bald "Huf Saltens" genannt wurde und imposant und altertuemlich genug war, Denkmalschuetzer auf den Plan zu rufen. Selbst wenn oder gerade weil es der Stadt gehoerte - ein Geschenk des letzten kinderlosen Schlossherrn, der sich gewiss nicht hatte traeumen lassen, damit soviel Verwirrung zu stiften. Wie fast alles im Leben war es gut gemeint und sollte den Kulturguetern Saltens, die zu dem Zeitpunkt im alten verfallenen Museum vor sich hingammelten, einen wuerdevollen Rahmen verschaffen, ja - sie mittels Schlossinventar seiner Tanten vergroessern. Es ist belegt, dass der kerngesunde Schlossherr nicht geplant hatte, vor seinen bedeutend aelteren drei Tanten zu sterben, was das entruestete Dreiergepann nicht daran hinderte, ihre beweglichen Gueter testamantarisch in den verdammten Teich zu versenken oder ihrethalben an die Hamburgern zu verscherbeln, bloss: ins Schloss kam das Zeug nicht. Punktum. Angesichts der Verfuegung des Schlossherrn, mindestens siebzig Prozent des Schlosses kulturell zu belegen, eine harte Nuss. Ohne Tantenerbe reichte die bewegliche Kultur Saltens nicht aus, auch nur einen Bruchteil der Raeume zu fuellen, waehrend Tanten-Inventar plus Schloss plus restliche Kulturgueter Saltens dem kleineren Staedtchen locker zu der Attraktion im Norden Deutschlands und darueber hinaus haette machen koennen. Der Dauerstreit um diese 70% ging durch alle Schichten, durch einzelne Familien und hatte Salten irgendwann derart entzweit, dass nichts mehr lief. Es musste erst jemand sterben, um die allmaehliche Erkenntnis in Gang zu setzen, wegen nichts und wieder nichts jahrzehntelang Beziehungen aufs Eis, Freundschaften verleugnet und Verwandte ignoriert zu haben, die Einsicht, dass nicht nur einige, sondern alle Recht beziehungsweise Unrecht hatten und weder der Schlossherr noch deren Tanten etwas dafuer konnten. Niemand. Und diese Zeit war weg - was fuer eine Verschwendung! Das praegte. Aus dieser Zeit entwickelten sich die monatlichen Buergertreffs, die Neigung, ihre Angelegenheiten unter sich auszumachen, der Widerwille, fast Ekel vor Manipulation, vor Schreihaelse und Ellenbogenmentalitaet. Sie hatten am eigenen Leibe erfahren, wie man sich auf keinen Fall streitet. Vergass einer von ihnen es, wurde er mit einem Satz daran erinnert und zur Vernunft gebracht: Bis Olga, das arme Grossstadtpflaenzchen mit den ewigen Prozessen, war es noch nicht durchgedrungen, daher konnte sie nicht anders als fragend gucken, als sie Roko den Satz von sich gab. "Wie bitte?" Geduldig erzaehlte Roko ihr die Geschichte vom Schlossherrn und deren Tanten. "Ach so", aeusserte die alte Frau sich unglaeubig, als haette er ihr einen unsittlichen Antrag gemacht. "Deswegen also krieg ich hier keine Anwaelte?!" "Wir Saltener sind der Meinung, unsere Angelegenheiten koennen und sollten wir unter uns ausmachen - sollte es mal nicht klappen, gibt es ehrenamtlichen Schiedsstellen, die in der Regel aus bewaehrten Familienoberhaeuptern ueber 80 bestehen und regelmaessig hinterfragt werden. In den meisten Rechtssachen geht es den meisten Anwaelten doch bloss ums Geld und nicht ums Recht, wie gerade du eigentlich wissen solltest. Guck dir mal unser #Bundestag an und staune." Sie sassen wieder mal beim koffeinfreien Kaffee ohne Kuchen, diesmal auf Olgas vorderen Veranda, vorschriftsmaessig durch einen grossen Tisch voneinander getrennt. "Wie bitte, ich soll ernsthafte Rechtsangelegenheiten vor sich hinsabbelnden Grufties ueberlassen? Hast du dein Hirn offen, mein Lieber?" Klingeltoene ersparten dem Professor eine Antwort. Olga zog sich erfreut am Gelaender hoch, winkte und rief, als befaenden sie sich auf dem hoechsten Baum im #HambergerWald: Fuer diese Jahrezeit war es viel zu warm, Olga erwog ernsthaft, den Sommer in Norwegen zu verbringen und suchte im Internet bereits nach passenden Immobilien. Sie hatte "the family", wie sie das Quartett entzueckt bei sich nannte, zusammengetrommelt: es ging um die Anzeige, die gegen Roko vorlag wegen versuchten Mordes, Koerperverletzung, Freiheitsberaubung, Verletzung einer Reihe von aerztlichen Fuersorgepflichten, Amtsmissbrauch, Untreue u.a. Mike war nach seinem Bayrischen Abenteuer Hals ueber Kopf erst nach Salten und dann weiter nach Hamburg gefluechtet und hatte sich dort einen Rechtsanwalt genommen - ebenfalls aus Hamburg. Die Anklage ging ueber fast fuenf DIN-A1-Seiten und beschrieb Kopfschmerzen, Luftnot, totale Erschoepfung, Depressionen, Bewegungsstoerungen undsoweiter, die bis heute nicht verschwunden und chronischer Natur waren: der junge Mann war angeblich arbeitsunfaehig und auf eine stattliche Rente aus. Olga war vom Hamburger Anwalt gewogen und als zu schwer befunden, die beiden Geschwister von Mike nicht einmal erwaehnt worden. Ein unbedarfter alter Professor mit weisser Weste hatte mehr zu verlieren, immerhin hatte er die eigens mitgebrachte "Tatwaffe" bei vollem Bewusstsein und Wissen gefuehrt, keine Kleinigkeit. Natuerlich war Olga Feuer und Flamme, eine Gegenklage zu lancieren, was bei Kim auf hoefliche Aufmerksamkeit stiess, waehrend Daniel sich heraushielt. "Lasst uns das ganze in den Teich fallen", brachte Roko das Saltener Motto zum zweiten Male an, bei den jungen Saltenern sofort eine Reaktion hervorrufend. "Das sieht nach einem Gestaendnis aus!" wehrte sich Olga empoert. "Haben wir das noetig?" "Wir?" wiederholte Roko amuesiert. "Euch ist klar, dass es dem Dummkopf nur ums Geld geht, der ist nicht nur pleite, er hat einige Glaeubiger am Hals, dem ich am hellichten Tag auf der Fussgaengerzone nicht guten Tag sagen wuerde. Alle Beteiligten waren zum Zeitpunkt in Salten gemeldet; sobald der Anwalt merkt, hier ist nichts zu holen, im Gegenteil, wird er ihn fallenlassen wie eine heisse Kartoffel. - Kim?" sah der alte Mann seine Enkeltochter direkt an. "Was moechtest du? Wir richten uns komplett nach dir" - er sah zu den anderen hin und zwinkerte - "Wir koennen das auch unter vier oder sechs Augen besprechen, wenn dir das lieber ist." Olga oeffnete den Mund wie zum Protest und klappte ihn wieder zu. Ihre Enkelin sah es und verzog den Mund, schien auf irgendwas zu warten. Um Kims Mund zuckte es: "Der Tee schmeckt hervorragend. Setz dich wieder, bitte, Olga." "Oh!" gehorchte diese sofort, von einem Ohr zum anderen grinsend. "Andrerseits kann ich auch hervorragend die Klappe halten." "Wenn ich daran denke", kam Kims bruechige Stimme nach einer Weile so leise, dass alle sich unwillkuerlich vorbeugten, "dass ein klares Wort von mir gereicht haette und Paps waer noch am Leben. Egal wie unerfreulich fuer beide, dafuer aufrichtig: scher dich zum Teufel, du Arschloch! Aber nein, ich musste mich unbedingt raechen, ich Idiot!" "Nein, Kim", widersprach Roko ruhig. Sie hob abwartend die Brauen: Skepsis mit einer gehoerigen Prise Bereitschaft, sich ueberreden zu lassen. "Ich habe mir die Krankenakten kommen lassen und mit den behandelnden Kollegen gesprochen: seine Lungen waren schon vorher nicht zu retten. Das Suchen nach dir hat ihn allenfalls abgelenkt; und wem schon einmal die Luft ausgegangen ist, weiss, wie unangenehm allein die staendige Angst davor ist - das ist ihm erspart geblieben. Lungenkrebs in fortgeschrittenem Stadium ist unheilbar, Kim, zumal bereits damals Metastasen da gewesen sein muessen, spaetestens nach zwei Monaten waere es aus gewesen. Allerspaetestens. Bei optimalsten Bedingungen. Du hast ihn besser gekannt: haette er sich einige Organe rausschneiden lassen, um aus sich weitere Wochen Armseligkeit herauszuwuergen? Ich, ehrlich gesagt, nicht." Roko holte Luft, als er sah, dass Kims Brauen sich zwar etwas gesenkt hatten, ihre Zweifel jedoch nicht. "Er war mein Sohn und ich bin letztendlich Wissenschaftler, daher wollte ich es genau wissen, besonders seine letzten Tage interessierten mich, also habe ich nicht nur Daniel wie eine Zitrone ausgequetscht. Moechtest du es hoeren?" Jetzt hatte er sie, sie nickte. "Wie ihr wisst, hat euer Paps es als Erkaeltung, allenfalls Bronchitis abgetan, ist aber weder in stroemendem Regen rausgegangen noch hatte er sich ueberanstrengt. Er hat sich deinetwegen Sorgen, aber er hat sich nicht verrueckt gemacht - er hatte Vertrauen. Bettruhe haette ihn nicht geheilt, weisst du." Er hob eine Hand, als wuerde sie ihn unterbrechen wollen, was nicht der Fall war: "Ich weiss, ihr habt ihm beide gut zugeredet, sich endlich ordentlich untersuchen zu lassen, aber fast moechte ich unterstellen, er hat gewusst oder geahnt, dass es sinnlos war und wollte den 'short cut' wie es eine gewisse Dame formulieren wuerde" - er warf der stumm dasitzenden Olga einen verschmitzten Seitenblick zu: endlich hatte er mal das Wort. "Du machst mich noch wahnsinnig mit deinen scheusslichen Anglizismen, by god", erklaerte er, bevor er sich erneut seiner Enkeltochter zuwandte: Kim hob eine Hand und beendete den Satz: "...dass er seine letzten Tage lieber mit seinen beiden Kindern verbracht haette, aber du hast Recht: er waere nicht ins Krankenhaus gegangen." Roko sah in ein Paar Augen, genauso geroetet wie die eigenen: "In Ordnung?" "In Ordnung..." Diesmal war sie an der Reihe zu zaudern, fragte dann: "Du hast Mike nicht wirklich mit dem Virus infiziert, oder?" Das Fragezeichen war gerade noch herauszuhoeren. "Was denkst du?" "Nein", kam es mit fester Stimme. Sie setzte hinzu: "Ist in Ordnung, haette ich an deiner Stelle auch nicht geschafft - und einen Fast-Moerder zum Opa? Nee, muss ich nicht haben." "Schlappschwanz!" war es Olga unmoeglich, sich laenger zurueckzuhalten. "Also mir waere ein ehrlicher Mord lieber gewesen". Ploetzlich holte sie Luft und musste lange und herzlich lachen, mit Traenen in den Augen bekannte sie endlich: "Ich habe seine Krankenakte gelesen, der hat tatsaechlich geglaubt, im Sterben zu liegen und war wochenlang richtig suuuperkrank! Ein anonymer Anruf bei der Polizei ein paar Tage nach unserem Abgang hat dafuer gesorgt, dass diesem Mistkaefer allenfalls schlecht war vom vielen Weisswein." Die alte Frau vermied den Blickkontakt mit ihrer Enkelin, bevor sie hinzusetzte: "Wie krank er sich auch waehnte, hat der Egomane wohlweislich verschwiegen, um als angeblicher Enkelsohn des beruehmten Corona-Professors zum Bahnhof chauffiert zu werden, und von dort mit dem Zug nach Salten. Ohne Skrupel das Leben der beiden Polizisten und der Bahnpassagiere aufs Spiel setzen ist schon starkes Stueck, find ich!" Roko hatte missbilligend zugehoert: "Woher hast du das schon wie...?" Weiter kam er nicht. "Aber Kim; das ist doch brilliant!", wandte Olga sich begeistert an ihre Enkeltochter: "Die Gegenseite hat also gar nichts in der Hand! Mensch, wir koennten den kleinen Scheisser zu Tode prozessieren!" Die junge Frau laechelte, schief, aber immerhin. "Nein." Es klang endgueltig. "Oh hell!" entfuhr es der streitsuechtigen alten Dame geschmeidig. "Why don't you guys piss in your fuckin' lil Teich, damn it!" "Olga!" kam es fast gleichzeitig aus drei Kehlen wie ein Staccato von Mozart. ende Salten ist ueberall, ob einzeln oder als Familie oder als komplette Nachbarschaft - habe auch von ganzen Doerfern gehoert, deren mutige Bewohner sich durchsetzen konnten. Chapeau! Dennoch sind alle Figuren frei erfunden - eine Ausnahme: die Olga. Mir war nach etwas mit Ehrgeiz, nach einer zaenkischen alten Erfolgsfrau - sofort ist mir eine Bekannte eingefallen, die auch irgendwo auf der HP erwaehnt wird: Ursula Laabs. Bin sicher, die Geschichte haette ihr gefallen, aber doch froh, sie nicht fragen zu muessen, da sie bestimmt nicht haette widerstehen koennen und langsam und unauffaellig etwas komplett anderes daraus gemacht haette - wahrscheinlich haette ich es nicht einmal gemerkt. Die Geschichte selbst ist natuerlich erfunden, ich konnte aber nicht widerstehen, das mit den Haushaltstuechern mit reinzunehmen. Die Pampe ist bei mir stundenlang aus dem Klo geschwommen, weil ein aelteres Paar unterm Dach Haushaltsrollen mit Klorollen (oder was weiss ich) verwechselt hatte - ich verbuerge mich also fuer die Machbarkeit. Ausserdem habe ich die Kellerszene leicht abgeaendert aus 'gesiebtes brot' uebernommen - kein Plagiat, weil von mir selbst geschrieben - Kellerszenen sind nicht so meins, einmal schreiben reicht. Die Gelegenheit moechte ich nutzen, mich hier abschliessend bei meiner Famile zu bedanken, die mich erdet und dafuer sorgt, dass ich nicht komplett in meiner eigenen Welt verschwinde: hab euch lieb! Passt auf euch auf, nick(i)/monique
me & corona ©hexandthecity, dezember 2020 P.S. Nachdem die engl. Version ("off the beach", seit Mitte 2021 online) ausgerechnet wegen einiger deplazierten Zwischenrufen meinerseits besser sein soll (uebersetzen ist nicht immer unterhaltsam, und die Gelegenheit, meiner Familie in NL/USA einiges zu erklaeren, ohne gleich eine Autobiographie schreiben zu muessen, unwiderstehlich), erwog ich so etwas auch hier einzubauen, allein... hier passt es nicht. Die Botschaft ueber meine grottenschlechte Kommunikation ist aber angekommen, daher einige Erlaeuterungen zu mir bzw. zu dieser Website: Angefangen hat es 2004 mit dem Hexenhaus, ein stummes Plaedoyer gegen das diarhoeische Fliessen im weltweiten Geldsumpf, um vorhandene Menschlichkeit und Solidaritaet sichtbar zu machen - sind viel viel mehr - mag jemand uebernehmen? Es folgten drei/vier Infokarten ueber #Luebeck, wo ich - mit Unterbrechungen - seit 1976 lebe: hexandthecity was born. Anstelle der ueblichen blauen und pinkfarbenen autobiographischen Donuts gab es Erzaehlungen, Essays, short stories, Raetsel und Episoden, das sind fast 20 Jahre, ik weet het niet meer - wir Hollaender moegen eh lieber frische Oliebollen. Wem das zu wenig Donuts/oliebollen sind: "das #heulmeisje und ich" verraet etwas mehr, unser beider Leben sind derart miteinander verwoben, dass ich das eigene Twitteraccount geloescht hab, um das Maedchen wenigstens hier am Leben zu lassen - werde nicht juenger, zwei war zu viel. |