lily
Erinnert ihr euch noch an Lily, als ihr Fell noch von den Ohrenspitzen bis zum nach oben kringelnden Schwanz pechschwarz und ihre Augen klar waren?
Ein Steinwurf hinter unserm Haus gab's ein Wäldchen - in dem sind Lily und ich immer spazierengegangen. Hier konnte sie nach Lust und Laune herumtoben und Schmetterlinge oder Grashüpfer jagen; die kleine Hündin fing zwar nie was, aber sie regte sich stets mächtig auf und tat, als sei sie irgendeinem Ungeheuer auf die Spur und alle in Todesgefahr. Sie konnte aus dem Stand bis zur Brusthöhe springen - wie ein Reh, wobei man sehen konnte wie durchtrainiert ihr Körper unter dem glänzendglatten Fell war - eine Araberstute in Miniformat. Ihre großen schwarzen Augen schienen dann noch größer zu werden, gleich herausfallen zu wollen, ihre spitzen Fledermausohren zitterten bei jedem Sprung, bei jeder Drehung ihres kleinen Kopfes und sie bleckte die Spitzzähnen, schien einen an- oder auslachen zu wollen:
"Wo ist das Monster, wo?! Ich zerreiße es in Stücke - WO?!!" - und doch bewahrte sie stets Haltung, ganz feine Dame.
Das hätte euch bestimmt gefallen. Mensch, jetzt seid ihr so alt wie eure Mutter damals...!
Allmählich ließ das Springen nach, und ihre schönen großen schwarzen Augen bekamen innen zwei Silbermonde, die langsam aber stetig größer wurden, bis sie eines Tages nichts mehr sehen konnte und ich dieses schöne stolze und bis dahin freie Geschöpf an die Leine nehmen mußte, damit sie nicht überall anstieß. Gar nicht so lange her: könnt ihr euch noch erinnern? Aber ich wollte euch aus ihren guten Tagen erzählen, von dem Wald und den Löchern, aus denen man sie manchmal ziehen mußte: einem Kaninchenbau oder der Höhle eines riesigen Bären - wer weiß?
An einem wunderschönen Frühsommertag, es hatte tage-, was sag ich: wochenlang wie aus Kübeln geschüttet, sodass Lily sich schier überkügelte vor unterdrückter Lebenslust. Ihr wißt ja, sie mochte kein Wasser, sprang elegant über jede Pfütze und weigerte sich, das Zeug auch nur zu trinken, jedenfalls pur - ein Schuß Milch mußte schon rein, sonst guckte sie nach kurzem Schnüffeln entrüstet hoch:
"Was?! Wasser?! Bin doch keine Ratte!!"
An dem Tag schien jedenfalls zum erstenmal seit langem die Sonne, und das Mädchen hatte sich tief tief eingewühlt, sodass ich Mühe hatte sie wieder rauszuholen.
Plötzlich.
Gab.
Die.
Erde.
Unter.
Uns.
N
A
A
A
A
C
H
!
Reflexartig packte ich das Tier, und wir fielen oder rutschten gefühlte zwei oder drei Minuten lang schräg in die Tiefe. Wir wären tiefer gesunken, wenn wir uns nicht in das Gezweig eines entwürzelten Baumes, der sich quergelegt hatte, verheddert hätten.
Minutenlang konnte ich nur betäubt dasitzen und Lily kraulen, dann sah ich mich um: Weit über - oder unter? - uns war ein Lichtfleck von der Größe eines arg kleinen Kellerfensters, unsere einzige Rettung, denn sonst war es dunkel. Aus Angst Lily zu verlieren - es gab ja überall Geröll, herausgerissene Büsche, umgelegte Bäume und Steine, und das Tier bebte vor Entdeckerfreude - steckte ich das Mäuschen kurzerhand unter mein Pullover.
Es war mühsam... Seid ihr schon mal im Dunkeln einen Berg hochgeklettert? nein? Jedenfalls holte ich mir jede Menge Kratzer, blaue Flecken und Beulen. Aber das war nicht das schlimmste. Das schlimmste kam, als...
das
Licht
ausging.
Einfach so.
Frechheit, vor allem nach meiner Pläckerei, oder? Wütend tastete ich nach einem dicken Stein, holte aus und warf es nach dem verschwundenen Licht. TOCK! machte es, als sei der Stein auf etwas Hartes, Hohles gestossen, und dann: PFFF! und das Licht ging wieder an.
Un-heim-lich.
Wenige Minuten später war es wieder finstere Nacht...
Diesmal benötigte ich vier Würfe bis das TOCK! und PFFF! erklang, und beeilte ich mich, den Abstand zwischen den unheimlichen Geräuschen und uns zu verringern, bevor das Licht...
Vedammt!! schon wieder zappenduster! So ging das mindestens eine geschlagene Stunde - das letzte Stückchen bewältigte ich in tiefstem Finsternis.
Da war es:
? hart.........................................glatt...............................................kalt.
Ich tastete weiter, inzwischen vor Erschöpfung jenseits vom Gruseln:
WAS WAR DAS...?! ein Griff?! zog und schloß dann geblendet die Augen...
"Also wirklich, Mama!" kam es da vorwurfsvoll von meiner ältesten Tochter Tina aus der Dunkelheit hinter mir. "Mach bitte den Kühlschrank zu und geh schlafen. Du weißt, die Erdbeertorte ist für Gabys Geburtstag!"
Man soll eben nicht mit leerem Magen ins Bett gehen. - Gute Nacht.
© 2005 hexandthecitys Maskottchen LILY war nicht eine schwarze Katze. 07.01.2005, 1 Tag vor ihrem 19. Geburtstag - unvergessen
heuschnupfen
Muss das sein? Also gut.
Es war Sommer: höllisch heiß, Pollen überall - ich schwitzte nicht nur, meine Nase lief wie die Krabbe, meine Augen tränten wie ein lecker Dampfkochtopf, kurz, ich litt unter der grausamsten Krankheit aller Zeiten: Heuschnupfen.
Nutzte aber alles nichts, ich brauchte diesen Kredit und zwar nicht erst nächste Woche oder morgen, sondern sofort. Also machte ich mich kreditwürdig zurecht, packte Tutu, mein kleines Hündchen ins Körbchen, stellte fest, dass meine Taschentücher allesamt mindestens feucht und daher schneuzuntauglich waren und stopfte eine Klorolle unter Tutus Decke - zusammen mit den Unterlagen, ohne die ich mir den Weg zur Bank sparen konnte. Ich weiß, ich weiß, wichtige Unterlagen tut man in eine Aktentasche, nicht ins Hundekörbchen, isss ja gut, Sie möchte ich mal mit Korb mitsamt Hund und Aktenkoffer herumdackeln sehen. Bei dem Wetter und meiner körperlichen Verfassung war mir alles schon fast egal; mein einziges Ziel bestand darin, es möglichst schnell und ohne Widerstände hinter mich zu bringen, basta.
Natürlich war die Bank voll, dafür aber immerhin vollklimatisiert: Wollten die etwa alle einen Kredit oder bloß durchgepustet werden?
Meinetwegen.
Ich war fünfzehn Minuten zu früh, begab mich daher möglichst würdevoll in die Sofa-Ecke für wartende Besucher, die bereits von einer Touristengruppe in bunten T-Shirts und Shorts besetzt war, alle miteinander guter Dinge und heuschnupfenfrei. Dort setzte ich mich, eine auf Grace Kelly hochgestylte Frau mit Triefnase, Kostüm und Hündchen, welches natürlich anfing, erbärmlich zu quieken, an die einzig freie Stelle.
Klar, dass die Hundekekse in meiner luftigen Sommerjacke waren - zu Hause, wo sonst? Kennen wir schon, werden wir mit fertig. Ich ignorierte also Tutu und die Handvoll Zuschauer, die diesen Warum-erschießen-sie-diese-Tierquäler-nicht-endlich?-Blick hatten, und rechnete im Geiste eine Kolonne Geldbeträge zusammen - eine Tätigkeit, die mich bisher immer beruhigt hatte.
War wohl unklug...
Tutu hatte genug und sprang aus dem Korb, der Korb kippte mitsamt Unterlagen exakt vor der Klimaanlage um - und langsam, fast majestätisch rollte die Klorolle sich quer durch die gesamte blöde Bank in voller Länge auf, sanft begleitet von einer Wolke herumwirbelnder Papierblätter...
Bist nun zufrieden, oder soll ich noch einen Kopfstand machen und dabei mit den Zehen schnippsen?
© 2004, hexandthecity
In vielen stories gibt es einen ehrgeizigen Mann, manchmal sogar eine Frau - nicht unbedingt mein Gewässer, woher also kenne ausgerechnet ich, Systemverweigerer par Excellence, so viel charmante Schnödrigkeit? Nachdem bei meiner jüngeren Tochter sich erneut Nachwuchs ankündigte, brach ich alle Brücken ab und eilte nach Lübeck, total abgebrannt - bin ich öfters. Eine Freundin - die Heidi, vielleicht liest sie dies ja und meldet sich mal - hatte mir ihre leerstehende Souterrainwohnung in St. Gertrud zur Verfügung gestellt, dafür hielt ich ihre blütenweiße Wohnung darüber sauber. Ich liebe solche Tauschdeals, die durch das komplette Fehlen vom Geld herrlich sind und eine Kommunikation auf Augenhöhe zulassen. Hab ich schon erwähnt, dass ich das Geldsystem nicht schätze und seit Occupy ohne Bankkonto herumschwirre? Aber selbst ein Eigenbrötler, deren Kids aus dem Hause sind, braucht heute gelegentlich etwas Kleingeld, daher warf ich kleine handgeschriebene und bemalte Zettelchen in Briefkästen (oder Kasten - Frau Laabs?) der umliegenden Häuser (fällt ergo unter Nachbarschaftsdienst, nix Schwarzarbeit), etwa:
"Wirbelwind sucht Jungle, ob Garten oder Keller,
Chaos lichten ist mein Hobby
- einfach mal fragen, ich freu mich!"
Und so kam ich zu der Bekanntschaft einer der ersten Selfmade-Ladies Deutschlands, deren Ehrgeiz, Charme und Humor "Hansa Immobilien" nicht bloß aus der Erde, sondern quasi aus dem Staub entstehen ließ, und wirbelte eine ganze Reihe von Jahren mit dem größten Vergnügen als Feuerwehrfrau öfters bei ihr herum - erstaunlich, welche Katastrophen eine, ähm, ältere Dame verursachen kann, wenn sie will. Staub ist ein wichtiges Stichwort, sie hatte die Bombardierung Hamburgs als Kind miterlebt und war seitdem - wie sie eisern behauptete: 'leck' wegen dem, nein: des (Genitiv, Frau Laabs, ist ja gut!) Glasstaubs im mit Weckgläsern gefüllten Keller. Vielleicht war sie deswegen nicht nur mit der eigenen Gesundheit so pingelig, was uns gelegentlich ganz sanft aneinander geraten ließ, denn meine Einstellung: "Es gibt kein schlechtes Wetter, höchstens unpassende Kleidung, werde schon nicht schrumpfen", fand sie zwar goldrichtig, aber...
Eines Tages goß es nicht nur Hunde und Katzen, die Schleusen hatten sich so richtig ohne Feindüse geöffnet. Ich hatte wieder mal ihren vollgelaufenen Keller trocken gelegt, woraufhin wir - auch wieder mal - Zander mit Mango in Honig/Senfsosse und Kartoffeln bei ihr in der Roeckstrasse genossen. Anfangs kochte meistens sie, mit fortgeschrittenem Alter überließ sie es gerne mir.
Ich hatte hinterher einen Termin und konnte/kann Pünktlichkeit ebenso wenig leiden wie sie, wollte daher trotz Mammutregen weg. Dafür hatte sie volles Verständnis, fragte zwar, ob sie mir "sonst irgend etwas Gutes tun könne... (es folgten eine Reihe von langatmigen Wahnsinnsvorschlägen)", und bestand noch darauf, einen riesengroßen weißen Regenschirm (auf dem Fahrrad, joh mei) aus ihrem Schlafzimmer holen zu müssen, aber letztendlich begleitete dieses damals wohl zu früh im argen (Un)Ruhestand befindliche Energiebündel mich ins Treppenhaus, wie sie das immer zu tun pflegte. Das am Balkonfenster herabströmende Wasser schien sie zu inspirieren, jählings fiel ihr eine Begebenheit aus der Anfangszeit ihres Erfolg an: wie sie die Sparkasse hatte überreden bzw. überlisten können, ihr, einem Nobody und schlimmer noch: einer Frau, einen Kredit zu bewilligen (ist in Corona Blues, wenn auch verändert, verewigt). Nach etwa dreizehn Minuten brach sie mitten im Satz ab und meinte trocken: "Es hat aufgehört zu regnen, Nicki, beeilen Sie sich lieber, Sie verpassen sonst Ihren wichtigen Termin. Bis die Tage!" Der leichte Triumph in ihrer Stimme, als sie einen ihrer altmodischen Grüße losließ, war unverkennbar. Energisch verschwand sie in ihrer Wohnung, mich mit garantiert dummem Gesicht im Treppenhaus stehen lassend.
Danke und gehaben Sie sich wohl,
Ursula Laabs!
geboren 1936,
gestorben 2017
wann ist ein mann ein mann?
Bin ich jetzt dran? Schön, jetzt ist ein bißchen männlicher Power fällig, stimmt's? ... Aber wieso denn: 'keine sexistische Bemerkungen' - ihr geht auch nicht grad zimperlich mit uns um und wir müssen lachen, oder?
Also. Ich darf mich vorstellen, bin der Alex, Alter: geht euch nichts an. Ha!
Schön, vorab muss man wissen, dass ich, wie man sagt: etwas krebsig bin, das heißt, ich bin ein Tüftler, sehr vielseitig und... - mein Gott, jaja, ich fang ja schon an!
Im letzten Sommer hat ein alter Freund von mir geheiratet, kenn ihn seit... - Mensch, darf ich nicht mal das erwähnen, nein? Gut, bei der Sache bleiben, nicht abschweifen, kein Problem. Geht los:
Mein Hochzeitgeschenk bestand darin, die gesamte Hochzeit vom Standesamt bis zur letzten Partyleiche aufzunehmen, hab nämlich einen ganz guten Camcorder - sowas hatte damals keine Sau - heute hingegen...
Lief übrigens alles blendend, vor allem die Partyleichen hinterher waren köstlich, sag ich euch, besonders die Braut, die im Unterrock... - ist gut: nicht abdriften, jaja. Ein paar Kassetten gingen jedenfalls nur für die Hochzeit drauf. Dann folgten diverse Geburtstage, und bereits Weihnachten merkte ich: Alexjunge, kauf ein paar neue Kassetten, das wird knapp. Hab's dann natürlich vergessen und mußte Silvester arg improvisieren, ein paar Aufnahmen auf Videokassetten und sonstwo übertragen, um Platz zu schaffen undsoweiter. Bin nämlich enorm flexibel, wie jeder bestätigen kann, ein Tausendsassa... - jaja, komm wieder runter, Weib!
Anfang Januar bekam ich dann eine Einladung zum Geburtstag der Braut, also die, die im Sommer einen alten Freund von mir aus dem Verkehr gezogen - autsch! - hey, denke, ihr Weiber regelt das verbal? Und zwar erhielt ich die Karte Sonnabend und genau an eben diesem Sonnabend sollte die Party steigen.
Bißchen knapp, stimmt's? Aber doch nicht für Alex, bin flexibel... Hatte Weihnachten einen typisch lübschen Präsentkorb erhalten: reichlich Marzipan aus good old Lübeck, teure Salamiwurst made in Italy, Originalkaviar direkt aus St. Petersburg, Lachs aus St. Peters Ording - kurz: das Beste aus Europa...
Wie bitte? ob ich schon mal in St. Petersburg war? Na, aber hal-lo, fahr jedes Jahr hin, ist ja 'n Katzensprung. Und wer schweift jetzt ab und stört den natürlichen Erzählfluß, eh...? Dan-ke!
War noch komplett. Hab's etwas aufgemotzt, 'ne riesige Schleife drumherum und ab die Post, eh: die Party. Die Bude war proppevoll, und das Ulkige war: nur ihre Verwandten hatten Geschenke mitgebracht, der Rest hat die Einladung genau wie ich am selben Tag erhalten. Hm, offenbar etwas unterorganisiert, die Dame: Wassermann vielleicht? Nein, zu leise - luftige Elemente auf jeden Fall. Na, macht nix. Dafür wurde mein Geschenk umso mehr gewürdigt, kam kolossal gut an, das Ding.
Um das Partybarometer anzukurbeln schlug ich vor, meinen Camcorder an den Fernseher anzuschließen; die Gäste, die fast alle ohne Geschenk erschienen waren, sahen nämlich aus als würden sie gleich einen Heulkrampf kriegen oder jemanden aus dem Fenster werfen - 'ne Menge wässrige und feuerige Elemente auf einem Haufen, schätz ich mal. Tja, und die Hochzeit hatte noch keiner außer meiner Wenigkeit gesehen...
Gesagt, getan.
War keine gute Idee.
Irgendwie sind mir die Kassetten eine Spur durcheinander geraten, jedenfalls erwischte ich auf Anhieb die Partyleichen, welche nun quicklebendig zum Geburtstag fast vollzählig ohne Geschenke erschienen waren und sich in eisiger Stille selbst bewundern durften...
Peinlich, peinlich, kann ich euch sagen. Aber es kommt doller, mag ich hier eigentlich nicht sagen...
Okay, überredet!
Kurz darauf folgte nämlich Weihnachten. Und spätestens als ich mich selbst im Fernseher sah, wie ich strahlend einen Präsentkorb auspackte mit Marzipan aus Luebeck, Kaviar aus... - na, spätestens in dem Augenblick stellte ich bei mir fest, dass es vielleicht nicht übel waer, meine Flexibilität ein klein wenig zu ordnen.
Tja, das war's.
Kann ich jemanden grüssen? Warum nicht? Ach so: Jungfrau, oder? Denn eben nicht, liebe Tante - geh doch und melk dich.
© 2004, hexandthecity.
Beim Durchlesen und Korrigieren ist mir aufgefallen, dass die meisten Figuren mir vage bekannt vorkommen - vielleicht nicht verwunderlich: wie soll man über etwas schreiben, was man nicht kennt? Alex hat verblüffende Ähnlichkeit mit meinem Vater, der dreimal verheiratet, technisch immer mit dem Aktuellsten ausgestattet war (das mit dem Camcorder ist mir aber selbst passiert, hatte damals wirklich noch niemand) und über eine Geselligkeit verfügte, die mir völlig abging und noch abgeht (ist etwas besser - mit mehreren liebevollen Kids /Enkeln und einigen guten Freunden kein Wunder). Ich notiere mal einige Eckpunkte eben wegen diesen Kids, deren (Ur)Großvater (Jahrgang 1911) sich 1955 trotz bereits vorhandenem zweiten Ehestand in meine Mutter verliebte. Ehefrau Zwo lernte er übrigens im Krieg kennen, beide waren im Widerstand aktiv, eine Tätigkeit, die ihm eines Tages eine Verhaftung eintrug. Als Ehefrau Numero 1 sich trotz Bitte meines Vaters weigerte, den Nazis das Lösegeld zu entrichten, damit diese ihn frei ließen, war es mit der Liebe des sonst umgänglichen Mann aus. Gezahlt hatte eine Kameradin, die er nach der Blitz-Scheidung ehelichten - jeder konnte seine Empörung über den "Verrat" (es ist mir klar, dass es immer zwei Seiten gibt - war nicht dabei) der ersten nachvollziehen, daher ging das fix. Meine Mutter oder eure (Ur)Großmutter, Jahrgang 1920 und damals Flüchtling aus Indonesien mit einem Kind, Chris (einem Bruder, wie man ihn jeder wünschen kann – überhaupt habe ich mit allen Geschwister verdammtes Glück), traf er in Amsterdam, sie wohnten im gleichen Haus. Ich habe insgesamt aus allen Ehen sechs Geschwister und kenne zwei davon nicht - Korrektur: seit dem Begräbnis meiner Mom nur noch 1. Tja.
That's life.
schnecken
Ihr kennt ja meine alte Wohnung in St. Jürgen - wunderschön! Der geflieste Balkon, die großen Bogenfenster, der völlig echte Parkettboden - und der Garten... - ein Traum!
Leider zu klein, sonst wär ich heut noch da.
Ich weiß, ihr denkt, ich bin wegen der Nacktschnecken umgezogen, die manchmal ihr Paradies draußen verließen, um mich zu besuchen - keine Ahnung warum oder wie die überhaupt reingekommen sind.
Und immer nachts. Am nächsten Morgen konnte man die Spuren aufm Parkett deutlich erkennen - war aber leicht wegzumachen. Ich kann also gar nicht oft genug betonen, dass dies nicht der Grund für meinen Umzug nach der anderen Seite der Stadt war, wirklich! Aber ich soll von den Nacktschnecken erzählen, darauf wollt ihr hinaus, richtig?
Gut, wo soll ich anfangen?
Wie viele älteren Damen muß/mußte ich mitunter auch nachts aufs Klo und bin dann oft im Dunkeln auf eins dieser Dinger getreten - war sofort hellwach und habs dann schaudernd wieder in den Garten geworfen, sind ja auch bloß Geschöpfe Gottes, dacht ich mir.
Einmal aber wurds mir zu bunt, gleich zwei hatte ich erwischt, bin von der ersten erschrocken hochgeprungen und prompt auf die nächste geplanscht.
Und das barfuß!
Ehrlich, da wars vorbei mit meiner Tierliebe, bin ins Bad gerast, mit ner Klorolle zurück und - wusch! - hatte ich eines und - wusch! - das andere und dann ab ins Bad und - wusch!! - ins Klo damit, und dann kräftig und lange gezogen - zweimal, dreimal, viermal!
Am nächsten Morgen dachte ich nicht mehr dran. Kochte mir nen starken Kaffee und schlich damit aufs Klo wie jeden Morgen. Knapp vorm Hinsetzen sah ich es gerade rechtzeitig: eine hellbraune schleimpampige unformige Etwas mit einer geknickten Antenne vorne, das langsam aber unaufhaltsam das Klobecken hinaufkroch...
Aber das war wirklich nicht der Grund - warum glaubt mir denn niemand?!
© 2004, hexandthecity
Sie pflegte jede Fliege, Spinne, egal was mühselig einzufangen und nach draußen zu evakuieren und war der sanfteste und doch traurigste Mensch, den ich je die Ehre hatte kennenzulernen. Wir wußten fast alles voneinander, trafen uns einmal der Woche zum Tee, Mittagessen, Tee (ihr Kaffee war mir zu stark, brr) - dazwischen schob oder schleppte ich irgendwas von A nach B, putzte ihre Fenster oder bügelte (meine beste Ideen kamen mir beim Mangeln) ihre Bettwäsche, während sie mir auf dem Cello etwas vorspielte: "nervt das auch nicht, soll ich was anderes spielen? Bitte nicht so weit aus dem Fenster lehnen, das ist tief... warte bitte, ich gehe mal schnell raus..." Zwanzig Jahre lang mit Ausnahme der zwei Jahren, als ich in NL meine Mutter pflegte und nur jede zweite Woche in Lübeck war. Sie war stets für mich da und hatte für alles Verständnis außer meiner mangelnden Energie, mir einen Verlag zu suchen: wozu? Unsere größte Gemeinsamkeit war die Literatur, worüber wir uns mit beherrschter Höflichkeit stets uneins waren, denn sie bevorzugte die schwere russische und ich die leichte britische Literatur. Danach, davor und dazwischen herrschte politische Harmonie (beide waren wir sehr grüne Sozialisten) und es wurde herzlich gelästert. Sie verstarb mit 77 Ende des Jahres 2021 und ich will nicht darüber reden - mit wem denn?
bob
(leser, die an arachnophobie leiden, werden dringend abgeraten, weiter zu lesen)
Er hatte sich lange Zeit nichts bei gedacht. Selbst seine Mutter hatte ihm in all den Jahren nie etwas Abstraktes wie Fantasie nachsagen können - und die behielt ihre Meinung in der Regel nicht für sich und war nicht zimperlich.
Nee.
Als bekennender Pragmatiker und Gewohnheitsmensch überließ er Sprünge, auch die gedankliche und das damit verbundene Hinfallen gern anderen; was er schätzte waren Übersichtlichkeit und Ordnung.
Jeden Samstag pflegte er seine Wohnung zu reinigen: im Wohn- und Schlafbereich trocken-, dann Küche und Bad oben naßwischen und anschließend mit dem Staubsauger quer durch, Treppe runter bis zur Haustür, Fußboden feudeln, Wasser in den Gully. Fertig. Später aß er woanders, um die Sauberkeit ein Weilchen zu erhalten.
Das war sein Samstag.
Jeder Samstag.
Die enorme Zunahme der Spinnenpopulation in diesem Jahr störte ihn nicht weiter, es war halt ein elendes Wetter: wenig Sonne und umso mehr Regen - klar dass die Viecher sich ein trockenes Plätzchen suchten.
Und immer größer wurden. Weniger Bewegung plus mehr Essen plus weniger Stress gleich dicker werden - nachvollziehbar. Nur über das "tock" im Inneren des Staubsaugers beim Saugen hatte er sich gewundert, als handelte es sich um ein groößeres Stück Holz anstatt so'n lüttes Spinnentierchen, ein tock! das allerdings jeden Samstag lauter zu werden schien und mittlerweile zum "TOCK!" mutiert war.
Einbildung...
Natürlich.
Ob er zusätzlich Vitamine benötigte?
Richtig fing es an einem Dienstagmorgen an, als er wie üblich um halb sieben die Augen aufschlug. Oben links in der gegenüberliegenden Ecke seines Schlafzimmers hockte eine knubbelige graubraun gestreifte Spinne, deren stattlichen Umfang seine Augen sofort tellerrund werden ließ: das ging zu weit! Aufspringen und zur Besenkammer eilen waren eins - das TOCK! im Staubsauger hatte sich mehr wie ein sattes Plopp! angehört, voller also, als würde etwas eben mal durch den Schlauch passen. Angst hatte er dabei keine, sein Ordnungssinn war gestört und wiederhergestellt, mehr nicht.
Was jedoch sollte er davon halten, wenn er diese Säuberungsprozedur jeden Morgen wiederholen mußte, auch nach sorgfältiger Schließung sämtlicher Öffnungen vom Staubsauger? Vorsichtig - er hatte einen sicheren und gutbezahlten Job in einer seriösen Firma und keine Lust auf Veränderung - fing er an sich zu erkundigen, ob die Kollegen auch so ein hartnäckiges Haustierchen hatten, das von Mal zu Mal fetter zu werden schien: hahaha, Scherz natürlich. Das Problem war - wenn's überhaupt ein Problem gab: er hatte nichts vorzuzeigen, morgens um halb sieben pflegte niemand reinzuschneien, nicht einmal seine verruchte Mutter. Er mußte Bob, wie er "Es" manchmal nannte, trotz Abgeklärtheit überzeugt, jeden Morgen ein und dasselbe Viech vor sich zu haben, also in Ruhe lassen, damit "Es" abends, wenn er in Begleitung nach Hause kam, immer noch da war.
Gute Idee, die, kaum gedacht, prompt ausgeführt wurde, nur...
Bob.
Das.
Viech.
War.
Nicht.
Da.
Er hatte die Kollegin irgendwie in sein Schlafzimmer gelockt und kam sich entsprechend lächerlich vor - Mensch, gerade diese Frau bewunderte er seit Jahren von weitem und nun sowas...
Am nächsten Morgen, als wäre nichts gewesen, war Bob wieder da, schien ihn feist anzugrienen.
PLO-HOPP! sagte der Staubsauger diesmal recht zögerlich, woraufhin es mitsamt verstopften Öffnungen in zwei übereinander gestülpten Müllsäcken in einem Müllcontainer vier Straßen weiter landete - bei seiner angeborenen Sparsamkeit eine Heldentat. Den neuen, den er sich gleich nach der Arbeit besorgte, war nicht billig: einen sogenannten Naßsauger, unter anderem geeignet, Überschwemmungen zu meistern und Nachkriegstrümmer zu entfernen - wie für ihn konstruiert also.
Aus irgendeinem Grund wurde er früher wach.
Und erstarrte. Das gleiche knubbelige, graubraun gestreifte, kurzbeinige Viech, nur etwas größer, schien ihn aus seiner Stammecke hypnotisieren zu wollen. Den Staubsauger ergreifen und einschalten war eins; mit glitzernden Augen sah er durch den durchsichtigen Plastikdeckel des Saugers wie Schaum sich bildete und reinigte den Wohnzimmerteppich gleich mit, stolz auf seinen nie versagenden Sinn fürs Praktische. Er dichtete sämtliche Türe und Fenster neu, verstopfte und verklebte die einzige Öffnung des Naßsaugers und ging fröhlich pfeifend zur Arbeit. Siebzehn Minuten zu spät - das erste Mal in dreizehn Jahren.
Den ganzen Tag starrte er angestrengt auf seinen PC, mit den Gedanken woanders; weder die Mittagspause noch das Kopfschütteln der Kollegen nahm er wahr - man mußte ihn beinahe schütteln, sonst hätte er glatt den Feierabend verpaßt. Er widerstand der Versuchung, sein Bett auf der Wohnzimmercouch aufzubauen, obwohl sein Bett sah so hart, kalt und ungästlich aussah. Trotz bleierner Müdigkeit benötigte er mehrere Stunden, um einzuschlafen. Und träumte schlecht.
Nach einer solchen Nacht konnte das Läuten des Weckers doch nur Erleichterung auslösen – dennoch behielt er die Augen eine Weile geschlossen, als würde er dadurch irgendwas aufschieben oder aus der Welt schaffen können.
Während er langsam die Lider hob, tastete sich seine rechte Hand langsam runter zum Staubsauger, der griffbereit unterm Bett lag - und ein Zentnerlast schien von ihm zu weichen: die Ecke war leer!
LEER!
Doch dann zuckte seine rechte Hand wie verbrannt hoch, hatte etwas Rundes, Haariges, Warmes unterm Bett ertastet...
Mühsam den Speichel zurückhaltend, griff er blindlings zum Sauger, saugte, saugte, saugte wie von Sinnen, dann war er hoch und sah es:
Die Beine waren im Fuß des Saugers verschwunden, der Rest aber widerstand, war zu groß... Es erinnerte ihn an Winnie Pooh, eine Figur aus seiner Kindheit, der nach reichlichem Honiggenuß im Baum einer Hase festsaß, ein Vergleich, der ihn zum Lachen reizte und gleichzeitig seine Starre löste. Den Staubsauger in der Hand, stolperte er ins Bad, sorgfältig darauf achtend, dass der Strom nicht unterbrochen wurde. Erst als das Viech überm Klobecken zappelte, schaltete er das Gerät aus, beinahe gleichzeitig den Stiel des Staubsaugers am Beckenrand schmetternd und spülend, als ginge es um sein Leben.
Schwitzend kippte er sämtliche Chemikalien, die er im Hause hatte, hinterher.
Und wagte es nicht, erneut aufzuatmen. Stattdessen reinigte er sämtliche Teppiche und Matten erneut, dichtete die Fenster und Türe mit sündhaft teurem Zeugs aus dem Bauhaus ab, immer noch stolz auf seinen nie fehlenden Sinn fürs Praktische, ja doch.
Diesmal kam er eine ganze Stunde zu spät, doch er merkte es nicht einmal, schien mit dem Computer verschmelzen, darin verschwinden zu wollen. Nicht dass er Angst hatte, hatte er nicht.
Brauchte er auch nicht; Bob, das Viech, kam nicht wieder.
Er war frei.
FREI!
Er ging mehrmals mit jener Kollegin aus, als sei irgendein Damm gebrochen. Mein Gott, im Grunde hatte das Viech ihn befreit, ja - befreit.
Er trällerte, hatte eingekauft: Champagner, Lachs, frische Baguettes, selbstgemachte Kräuterbutter - schaute zur Uhr - gleich würde sie da sein, oh happy day...!
Was sollte er sagen? Der Abend war perfekt, die Nacht - ihre erste! - noch besser.
Es war der Sonntag danach, er brauchte nicht aufstehen, konnte liegenbleiben und das nackte Wesen bewundern, das neben ihm auf dem Bauch lag, die unter der Decke wie gemeißelt aussehende Rückseite ihm zugewandt. Zart, beinahe spielerisch zog er ihr die Decke weg, küßte sich den frei gewordenen Rücken herunter und spürte, wie das Blut in seinen Adern gefror, so dass er seinen Kopf, der zurück gezückt war, nur noch als Eisklumpen empfand:
Da, plastisch und naturgetreu graubraun gestreift mit haarigem Knubbelleib und acht kurzen dicken Beinen, war auf dem verlängerten Rücken seiner Kollegin tätowiert:
Bob!
Nur ein klein wenig größer...
© 2005 hexandthecity
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