corona
blues vorwort Dies ist ein ungefähr (Geschenke zählt man nicht) 40seitiges Corona-Präsent: komplett, unkompliziert, so gut wie nicht pointiert, lustig und (hoffentlich) angenehm zu lesen. Gewalt? Minimal. Sex? Allenfalls dezent-erotische Momente, ein wenig #MeToo for insiders - nix für Romantiker, völlig "off the beach" (engl. Version) also. Mit lockerer Hand während der ersten sog. Lockdowns 1 & 2 geschrieben. Ein Geschenk, aber kein Freiwild: Hartz4-Empfänger sind herzlich eingeladen, evtl. Plagiate in meinem Namen zur Anzeige zu bringen und dann gerne das Geld am Strand zu verjubeln. Viel Spass beim Lesen! (Ende 2020 korrigiert von Alicia, die sicherlich verzweifelt ist, weil ich schon wieder etwas geändert habe - danke!)
(kim) Kims Paps hatte wiederholt davor gewarnt, die Nase oder andere vorstehende Körperteile in den Garten eines Nachbarn einzutauchen: es könnte stecken bleiben, und umziehen ist doof. Als Gärtner oder Rentner mit viel Zeit allenfalls. Oder als gleichgültiger, pragmatischer Stoffel mit einem Fell, das keine Bremse zu durchdringen vermag. Und nun hatte sie einen am Hals. "QUEEN
OF THE DANCE, original mit Alice McArdy. Woher hätte sie wissen sollen, dass der Mensch, der so schnoddrig ihre Konzertkarten im Internet feilbot, ihr Nachbar war? Nun gut, das Konzert sollte in Salten stattfinden, je nach Bizeps zwei bis vier Steinwürfe von ihrer Haustür entfernt. Aber Salten war kein Kuhdorf, die SAL kein Dorftheater und aus irgendeinem Grund hatte Hamburg sich in ihrem Hinterkopf als sein Wohnort verankert. Als man die Städte der Europatour von Queen of the Dance bekannt gab, hatte sie mit Paps und Daniel in der Hütte unten in Bayern Urlaub gemacht: medien- und digitalfrei; ihre Anstrengungen, nachträglich eine Karte zu ergattern, waren wie Versuche, sich unter Wasser verständlich zu machen: "Im
Vorverkauf bereits vergriffen, sorry, können Shit. Später stellte sich heraus, dass es eine der letzten öffentlichen Veranstaltungen war - #Corona hatte sich bundesweit durchgesetzt. Jene Anzeige in den Saltener News schien Alice und ihre Co-Tänzer auch nicht näher zu bringen: je mehr sie sich schriftlich abstrampelte, wenigstens eine der beiden Karten zu ergattern, umso grotesker wurden die Bemühungen ihres Gegenspielers, sie zu behalten - dagegen war Don Quixote ein mickriger Beamte der Abteilung für Erdnüsse. Mit Geld war er nicht zu locken - gerne hätte sie beide Karten zu einem guten Preis gekauft. Warum auch nicht? Sie hatte die kleine, aber exklusive Tischlerei mit dem schlichten Namen 'Holzkiste' von ihrem Vater übernommen, war nicht arm; er als Computerfachmann leider auch nicht. Nach einigen Wochen
Austausch von E-Mails, eine spritziger als die vorherige, hatten
seine Geistreicheleien ihre Bedenken derart aufgeweicht, dass ein
Blinddate daraus wurde - ihr erstes überhaupt... Nicht dass er häßlich war, oh nein, ganz passabel: halbwegs groß, alle Haare, Zähne und Gliedmassen vorhanden; Typ glattrasierter, wenn auch unsportlicher Landarzt/Anwalt/Beamter, gefühlt mit Halstuch. Gar nicht übel also - nur: er war nicht ihr Typ. Sie hatte nämlich keinen. Vernünftige und selbständige Frauen nehmen Äußerlichkeiten bekanntlich nicht so wichtig, stimmt's? "Tiara Andrieux?"
Erhobene Brauen, fragend, aber offen und selbstbewußt der
Blick aus verwaschen pseudoblauen Augen. Oder waren sie grau?
oder braun?... hatte er überhaupt Augen? Wer...? Bei diesem ersten Treffen
hatte sich ihre Aufmerksamkeit weniger auf ihn als auf die Bühne
konzentriert: schwungvolle Musik und synchrone Bewegungsabläufe,
ein mitreißender KombiPack, der alle Gliedmaße
mitzappeln ließ. Dieser den gesamten Körper erfassende
Rhythmus, ein Mix aus Ballett und Steptanzen mit akrobatischen
Einlagen: einmalig! Alles mit einer Leichtigkeit - man hätte
schwören können, es zu Hause einigermaßen
nachtanzen zu können. Kurz: sie hatte den Mann neben sich
vergessen und mußte sich nach dem Konzert zusammenreißen,
ihm die nötigste Aufmerksamkeit zu schenken. Ein Auftakt so
vielversprechend wie ein ungeschälter Apfel am Schluß
eines 4-Sterne-Menüs. Absichten hatte sie keine - weder ernsthafte noch unehrenhafte. Zwischen zwei ganz patenten "Kerlen" und einer kränkelnden, dafür sehr lieben alten Frau relativ unverhätschelt aufgewachsen, hing ihre Glückseligkeit weder von einem Mannsbild noch vom Muttertum ab - im Grunde ein Paar Schuhe, oder? Warum mutwillig einen Zustand verändern, mit dem man rundum einverstanden war? Sie liebte ihren Beruf, ging genauso gerne aus wie sie mit einem guten Buch zu Hause blieb - sie war unabhängig und kultiviert, eine moderne Frau ohne biologisches Ticken und ohne Zicken. Und nicht zu übersehen: die Saltener Meg Ryan sozusagen; ihre fast chronische Abwehrhaltung Männern gegenüber stammte teils daher: mal angenommen sie würde mit den Augen rollen und hecheln beim Anblick jedes attraktiven Mannes, der an ihr vorbei lief? Auge ißt mit, klar, aber ordentlich kauen war auch wichtig, von der Verdauung und Endausscheidung einmal abgesehen. Und als Köchin, Putz- und Wäschefrau irgendeiner verzogenen Majestät war sie sich zu schade - umgekehrt verlangte das auch keiner. Wieso also war eine "Beziehung" erstrebenswert? Ab und zu ausgehen, sich abwechselnd bekochen - war das nicht genug? Sex? Nichts weswegen man zusammenziehen müßte, für Notfälle blieben Beate Uhse oder selbst Hand anlegen - besser als eine bakterielle Vaginose oder Schlimmeres. Er war auch nicht aufdringlich geworden und hatte sich per Händedruck vorm Theater von ihr verabschiedet - wenn auch mit einem halben Wiedersehensversprechen in der Tasche. So ging es wochenlang: auf
Armeslänge Abstand, aber mit lockerem Handgelenk, weil
Vorsicht nicht notwendig schien - ihrer zu niedrig hängende
Lampe in der Küche wich sie genauso mechanisch aus. Viel
später erfuhr sie, dass er Wochen vor dem offiziellen
Verkauf der Tickets in die Wohnung ganz unten eingezogen war. Da
war der Zeitpunkt zum Auf-dem-Absatz-kehrt bereits verstrichen;
irgendwie war sie so unauffällig reingerutscht, nicht mal
mit vertauschten Rollen hätte der ausgelutschte Satz von
Goethe gepasst: "...halb zog er sie, halb sank sie hin...";
war eh ein kleiner Sexist. Je länger sie als
ideales Paar die Runde machten, umso mehr zog sie sich zurück
und umso weniger schien sie imstande, die leidige Sache zu
beenden. Wie denn, mit welcher Begründung? Selbst ihre
älteste Freundin, sonst Verständnis hoch drei, riet
ihr, um Himmelswillen nicht alles hinzuschmeißen. Wohl wahr. Leider. Und
leider waren die Haare, die sie in der Suppe fand, nicht sehr
ausgeprägt, offenbar nur für sie wie die
Spaghettis am Kinn Loriots. Am schlimmsten waren ihre
Unterhaltungen beziehungsweise Smalltalk, er ging ernsthafte
Gespräche aus dem Wege, war in dieser Hinsicht wie ein Stück
Seife - sie hingegen diskutierte für ihr Leben gern. Allmählich baute sich
in ihr ein Groll auf, dass sie glaubte, explodieren zu müssen.
Und sie explodierte. Regelmäßig. Er lächelte. War
ganz Verständnis. Machte ihr einen Heiratsantrag, den sie
wutschnaubend ablehnte - er war dann nicht zu halten: war sie
nicht zum Anbeißen, wenn sie wütend war, sein hübsches
kleines Frauchen... grrrrrr. Eines Tages hatte sie ein
Ei in der Hand und schwups! landete das unschuldige Ding in
seinem Briefkasten. Oder sie tröpfelte ein wenig mit
Sekundenkleber herum: Türschlösser, Schuhe und
Klamotten - alles, was ihr klebenswert schien. Und ihm gehörte.
Es dauerte, bis ihm aufging, wem er diese Unannehmlichkeiten zu
verdanken hatte; ihr waren nämlich die kleinen Ideen - und
die Geduld - ausgegangen, heftigeres Geschütz mußte
her. Erst als er sie in flagranti erwischte, wie sie alle
Riesenreifen seines ausserhalb der Stadt parkenden SUV mit einem
Hammertacker bearbeitete, nachdem er sie tags zuvor über
einen Hamburger Termin informiert hatte, rasselten bei ihm die
Alarmglocken los. Es folgten ernsthafte, aber verständnisvolle
Gesprächen, alle nach dem Schema: Ihre letzte Aktion war ein
richtiger Stinker - im wahrsten Sinne des Wortes. An einem sehr
frühen Sonntagmorgen war er vom Geburttag eines (ihren)
Freundes leicht angedieselt nach Hause gekommen und gleich mit
beiden Füßen reingeplanscht. Er hatte den Notklempner
rufen müssen, der - schließlich war Sonntag -
innerhalb einer Stunde da war. Dieser überteuerte Mann mußte
zwei Stunden später Verstärkung herbeizutelefonieren,
um dann mit nunmehr drei Mann und einem für Saltener
Verhältnisse Monster von Wagen, der nach einem ausgekügelten
System hatte durch Saltens Straßen gelotst werden müssen,
nicht nur in seiner Wohnung, auch der Gullydeckel vorm Haus wurde
gelüftet (sein schöner Steingarten!) stundenlang zu
wühlen und zu saugen und zu pumpen; und immer wieder waren
atemberaubende Fäkalien aus dem Klo im Parterre
herausgeblubbert, weil die Bewohner der höher gelegenen
Mietwohnungen - insgesamt fünf Partien eines dieser
wunderschönen Altbau-Fachwerkhäuser in der Innenstadt -
irgendwann ihre nachts angesammelte Flüssigkeit, wenn nicht
Festeres, spürten und aufstanden, um sich diesbezüglich
zu erleichtern, und exakt unter seiner Wohnung im Knick Richtung
Strasse sich die ganze Chose angesammelt hatte. Natürlich
hatten die Herren in Overalls es nicht nötig, sich zu
bücken, um den Schweinkram aufzuwischen, und wer wohnte ganz
unten, wo an diesem mittlerweile gar nicht mehr frühen,
dafür wunderschön klaren Sonntag noch mindestens
zehnmal die stinkende Pampe aus dem Klo im Bad seiner
wunderschönen Wohnung herausquoll, weil es unten nicht
weiterging? Ungewohnt verschwitzt und
apart duftend stampfte er gegen Abend, als er mit den
Säuberungsarbeiten halbwegs fertig geworden war, die Stufen
zu ihr hoch, den Daumen so lange auf ihrem Klingelknopf lassend,
bis sie zerknautscht und verschlafen im Morgenmantel die Tür
aufmachte. Sie sanft mit dem eigenen Körper in ihre Wohnung bugsierend und mit einem Seitenkick die Tür hinter sich schließend, hatte er seine rechte, vor ungewohnt körperlicher Arbeit und Wasser geröteten Hand auf ihre linke Wange gelegt, eine bestimmte Stelle ganz leicht berührend, die sie ihm leider einmal verraten hatte: wie ein Hauch. Die linke Hand platzierte er, ihren Morgenmantel öffnend, zielsicher etwas links unterhalb des Nabels. Ihre empfindlichen Geruchsnerven, ihr nach vier Tagen Influenza geschwächter Verstand, alles bäumte sich auf und fiel dann wie nicht vorhanden in sich zusammen, und er verführte sie trotz ihrer rebellierenden Nase und dem irritierten Magen auf dem schwarzen Schmutzabtreter im Flur. Im letzten Augenblick drehte er sie wie eine Bulette inner Pann blitzschnell herum und entlud sich dort nach einigen heftigen Stößen zielsicher, dabei zum ersten Mal den Mund aufmachend: "Paßt doch, oder? Ja, durchaus angemessen." Und verschwand - alles ganz ruhig - als würde er die Zeitung lesen oder eben mal für kleine Mädchen. Sie torkeltete ins Bad und
übergab sich. Lange. Dann stand ihr Entschluß
fest. II.
mehr vorab "Sag mal", Roko
sah sie nicht an, stattdessen den uralten holländischen
Prunkofen mit den Keramikfüßen und delftblau gemalten
Originalkacheln bewundernd, der seit Olgas Einzug in der Ecke
zwischen Wohn- und Eßzimmer - und davor einige Dekaden in
ihrem Berliner Empfangsraum - gestanden hatte. "Hast du
überhaupt noch Verwandten?" Zweimal im Jahre trafen sie sich zum Geburtstag der Freundinnen, die passenderweise fast sechs Monaten auseinander lagen - selbst vier Jahren nach Elisas Tod noch. Saßen auf vor Äonen kunstvoll geschnitzten, aber gottlob erst vor Jahren frisch gepolsterten Stühlen in Olgas Eßzimmer, das wie das gesamte Haus moderat und geschmackvoll mit Antikmöbeln ausgestattet war, Tassen, Kanne mit koffeinfreiem Kaffee und Diätgebäck zwischen sich auf dem im gleichen Stil geschnitzten runden Tisch. Im Laufe jedes langen Lebens fällt irgendwann das eine oder andere vormals lebenswichtige Ritual dem Schafott der Zeit zum Opfer - Olgas letzte Bastion war ihre gute Stube beziehungsweise das Wohnzimmer als Empfangsraum: das Knacken der Gelenke, wenn man sich in dieser tiefen Grube namens Sofa fallenlassen ließ und die Anstrengung, aus derselben wieder herauszukommen, die Abstände zwischen allem, von Kanne bis zur Zeitung, die es galt zu überwinden, möglichst in Zeitlupentempo wegen evtl. nachfolgenden Schmerzen und/oder Scherben, die irgendwer ja wegräumen mußte. Wie die erste Lesebrille: irgendwann reichte die Reichweite nicht mehr. Es hatte was für sich, seine Zeitung auf den Tisch ausbreiten und ohne aufstehen überall heran zu können, und sich zudem den Hals nicht verrenken zu müssen, um Besucher auf den Mund sehen zu können, denn das Gehör wurde mit den Jahren auch nicht besser, und diese komischen kleinen Dinger, die dem abhelfen sollten, fiepten immer zur Unzeit und machten auch sonst sonderbare Geräusche, vom Fummelkram mit den noch winzigeren Batterien abgesehen. Olga sann darüber nach, ob das Trendwort #Achtsamkeit nicht eher ein Boomerwort war, kicherte und vergaß es gleich darauf wieder. "Kommt sonst
niemand?" wies Roko mit den Augen auf drei weiteren
Kaffeegedecke. "Sind Malte und seine Frau und Schwester auch
tot?" Wenn Olga wollte, konnte
sie ihrer megaphonähnlichen Stimme zum sanften
Katzenschnurren herunterdimmen. Immer noch. "Nun, trink
immerhin deinen Kaffee aus", meinte sie mit einem Lächeln,
das entfernt an die charmante Gastgeberin von früher
erinnerte. * * * "Wie lange weißt
du davon?" wollte sie ohne Vorrede wissen, als er abends
nach einigen Stunden Telefonterror endlich abhob. III. irgendwo zwischen I & II (immer noch oder schon wieder kim) Kaum war Kims Gesundheit
wieder hergestellt, schlich sie nachts in den Keller, einige
Schräubchen der Bunkertür fester drehend, dafür
andere lockernd, damit die schwere Tür, einmal zugefallen,
von innen nicht mehr zu öffnen war - höchstens per
Dynamit. Als Tüpfelchen auf dem i hatte sie tags zuvor das
gesamte Werkzeug aus ihren Kellerräumen nach oben
geschleppt: fertig war die Falle. Kellerfenster gab es hier unten
keine: eine Gruft ohne Funkempfang, modrig und nicht eben gut
durchlüftet, eventuelles Poltern drang allenfalls als
Rattenkonzert durch die Bunkertür - vorm Einrichten ihrer
Bastelräume hatte sie das getestet. Auch außerhalb
ihres Berufs war sie begeisterter Tüftler und die einzige im
Hause, die den miefigen ehemaligen Bunker aktiv nutzte, eine
vorzeitige Rettung war also nicht zu befürchten; dennoch
entschied sie sich für das ruhigere Wochenende, um nicht in
Versuchung zu kommen, den Halunke vorzeitig rauszulassen: an
diesem Weekend würde sie ausnahmsweise nicht zu Hause sein,
mußte zu ihrem erkrankten Vater, dem einzigen Menschen, der
ihre doch recht vagen Vorbehalte gegenüber Mike teilte, ein
Mitkommen dieser allgegenwärtigen 'Beziehung' ausschließend.
Halleluja. Samstag schaukelte sie mit
Tolstois "Krieg und Frieden" in ihrem bequemen
Hängesitz im Flur, Rucksack fix und fertig gepackt neben der
Wohnungstür und voller Vorfreude erstens auf ein entspanntes
Wochenende mit Paps und ohne
ihn, dann natürlich über ihren Streich und
dessen mutmaßlichen Folgen: eineinhalb Tage Einzelhaft in
unsauberer und gruftkalter Umgebung würde selbst den
trägsten Döskopp zum Berserker und den unartigen
Scherzkeks zum verlassenen freien Menschen machen... Oder? Es war
vielleicht albern, aber sie wollte, dass er sie zum Teufel
schickte und nicht umgekehrt - warum auch immer. Sie hatte ihre
Räume nicht abgeschlossen und ihm ihren guten Schlafsack
dagelassen, tja, und seine rote Kinderplörre, die er unten
verwahrte, hielt auch warm: wohl bekomm's und adieu, Maus! Die erste Minicam entdeckte sie auf der Suche nach Stoff für ihre selbstgebastelte "Kläranlage", eine bereits vierstöckige mit Stoffresten bespannte Holzkonstruktion. Holz hatte sie ja. Ihre eigenen Räume waren mit Klimaanlage ausgestattet, gut isoliert, übersichtlich aufgeräumt und daher schnell abgegrast. Froh über den Schraubendreher, betätigte sie sich als den Einbrecher, den sie erfunden hatte, auf der Suche nach Werkzeug, Flaschen und Stoffresten für die 'Entgiftung' der fast einzigen Flüssigkeit im Keller, denn die Melkquote des Airconditioners überschritt selten 1 Fingerhut pro Tag. Mit einem kleinen Schraubendreher Schlösser aufbrechen war keine Kleinigkeit, zumal die meisten Nachbarn nach dem letzten Einbruch entweder stabile Schlösser eingebaut oder nichts Wertvolles im Keller hatten; irgendwann fing der Mangel an Flüssigkeit, Sauerstoff und Schlaf an, sich bemerkbar zu machen. Erschöpft hatte sie sich auf den Boden sinken lassen und schaute von dort direkt in die erste Cam: an der Lampe angebracht, die von der niedrigen Decke des langen L-förmigen Korridors die ersten drei oder vier Meter ausleuchten sollte, Linse Richtung Bunkertür. Einmal aufmerksam, fokussierte sie ihre Suchaktion und fand noch eine vor seiner Kellertür, mit Blick auf die gesamte Länge des Korridors; die dritte und vierte entdeckte sie in seinen mit Sperrmüll und Rotwein gefüllten Räumen, dessen Tür sie als einzige ohne Werkzeug aufzubrechen vermocht hatte - das Schloß war ein Witz aus der Vorkriegszeit. Nach dem Keller-Vandalismus hatte sie die Installation einer Mini-Überwachungskamera in ihrem Keller erwogen und sich schlau gemacht, kannte sich daher aus: alle Cams waren mit Bewegungs- oder Lichtmelder ausgestattet, hatten zweifelsohne direkten Kontakt zu Mikes PC und waren halbwegs gut getarnt sowie fachmännisch angebracht: wozu war man gelernter Elektronikfachmann? Allein die Vorstellung,
wie Mike sich irgendwann an den Bildern ihrer Wut und
Verzweiflung weiden würde, hielt sie davon ab, die Kameras
eine nach der anderen runterzuholen und an die Wand zu
schmettern. Langsam begab sie sich in ihren eigenen Keller und
setzte sich an den uralten Schreinertisch, den Kopf auf ihre Arme
legend, Gesicht nach unten. Sie mußte nachdenken, und zwar
ohne digitale Zeugen: IV. legen wir (ohne klammern) los? Fünf Tage lag Kim im
Marienkrankenhaus, bevor sie ihre Augen aufmachte, und wer saß
an ihrem Krankenbett, das Gesicht ein einziges Paket aus
Treuherzigkeit und Sorge? Hauptchor der wenigen
Besucher, die sich trotz Corona hertrauten: "Wie konnte das
passieren?" Von Paps und Daniel keine
Spur. Während ihrer kurzen wachen Momente gingen ihr Bilder
durch den Kopf: die Abwesenheit des einen war schon merkwürdig
genug - aber beide? Ihre Familie war klein, aber innig, der
Zusammenhalt bedingungslos. Ihr Vater hatte gerade den
Gesellenbrief in der Tasche, als sie quasi mutterlos zur Welt
gekommen war. Es schien natürlich, das Lehrlingsmädel
aufzunehmen, als dieses fast zeitgleich vom verheirateten Chef
schwanger wurde. Er hatte eine Ersatzmutter oder weibliche
Bezugsperson gesucht, sein Selbstvertrauen als junger Vater und
überhaupt mußte sich noch entwickeln. Viele Jahre
später hatte der umtriebige Boss dem jungen Paar die
Tischlerei überschrieben. Erst nach einigen Tagen
kam ihr Bruder mit einem alten Rucksack, Mundschutz und schweren
Schritten hereingeschlurft, ganz in Schwarz, die Ringe unter den
Augen noch tiefer als sonst. Und stumm. Kim spürte, wie ihre
Blutzirkulation sich völlig aus dem Kopf zurückzog:
"Paps?" * * * Ein Tag später wurde in ganz Deutschland Lockdown Numero 2 verhängt. Fast zeitgleich stimmte Salten auf einem Onine-Bürgertreff via Zoom mit großer Mehrheit zu, eine begrenzte Anzahl französische Corona-Patienten aufzunehmen, daher beschlossen die frischgebackenen Großeltern auf Nummer Sicher zu gehen und 'dat Mädel' trotz deren gelegentlicher Bewußtlosigkeit aus dem Krankenhaus zu holen, zumal der junge Mann, der darauf beharrte, ihr Verlobter zu sein, öfters Anstalten machte, sie zu seiner Schwester zu lotsen. Zum Glück wog eine gleichnamige Großmutter mehr als ein mickriger Pseudo-Verlobter, der gleich am ersten Tag von der Patientin herself herausgeschmissen worden war - zumal der angesehene Professor Robert Konrad Landauer ein alter Freund der Familie war. Ohne lange herumzufackeln
ließ Olga das obere Appartement ihres dreistöckigem
Hauses, bis dahin Solarium, Massageraum, Sauna sowie Refugium
ihrer Perserkatze, Julia, leerräumen und reinigen;
Krankenhausbett und Pfleger stammten vom brandneuen Großvater,
der sich beim Krankentransport weit aus dem Fenster gelehnt
hatte, nachdem deutlich wurde, dass von Kims Bruder nichts zu
erwarten war. Am gleichen Tag lag das Mädel besser
abgesichert als so mancher Papst: wer dort hoch wollte, mußte
erst an einer alten Frau vorbei, die entschlossen war, es nicht
nochmal zu verkacken. Nach
und nach beendete Olga ihre juristischen Kriege, dafür
einige Detektiven auf den merkwürdigen "Verlobten"
abstellend, und erfuhr unter anderem, dass dessen Firma kurz vorm
Bankrott stand und er vom Staat als "Coronaopfer"
Unterstützung beantragt hatte. Oi, wenn der sich da mal
nicht verrechnet hatte, noch hatte sie Beziehungen. Nach einigen
Worten mit den Freunden Kims, die sich trotz Corona ins
Krankenhaus getraut hatten, weitete Olga die Aufgaben der
Detektei auf die Wohnung ihrer Enkelin aus und mußte
feststellen, dass das "Subjekt", wie sie den jungen
Mann mit spitzen Lippen nannte, seine Kellerräume bereits
leergeräumt hatte; in Kims Wohnung fanden sich immerhin
einige Bugs mit Teilen von Fingerabdrücken, die nicht Kims
waren - fehlte bloß die Aussage oder Anzeige des
Mädels.
V.
bavaria blues Es war nicht geplant. Er war doch kein Verbrecher. Nicht so. Die Sache mit dem Keller war eine Retourkutsche gewesen, mehr nicht. In Ordnung, etwas derb, aber stundenlang in einer Kloake waten, um hochwertige Brücken, Chippendalemöbel und Porzellan zu retten - und dann die Schuhsammlung, sein ganzer Stolz: was war dat, Pillepalle, oder wat? Und die oh so liebe unschuldige Tiara hatte es generalstabsmäßig geplant; auch die Kellergeschichte war ihm zugedacht worden, er sollte tagelang im Keller eingesperrt darben - was konnte er dafür, wenn Tiaras Eltern das Mädel nicht oft genug übers Knie gelegt hatte? Und überhaupt, solche Sachen waren in einer Beziehung zwar nicht üblich, aber doch etwas, was nur das Paar etwas anging. Persönlich also, privat. Das mit ihrem Bruder war
etwas anderes. Doch auch hier war er irgendwie hineingerutscht.
Er hatte ahnungslos, wenn auch nicht komplett unschuldig, einfach
nur reagiert, mehr nicht. Sein Verhältnis zu Daniel war von
Anfang an gut gewesen, sie hatten diverse Sachen ohne weibliche
Begleitung gemacht - was Männer während einer Pandemie
so machen, wenn das Wochenende lang und Frauen keine Lust hatten:
ein wenig über den Durst trinken, Sport und heiße
Filme gucken, sowas. Nicht direkt ein Herz und eine Seele, aber
sich in einigen typisch maskulinen Dingen einig und bei
Beziehungsstress so, dass der Kollateralschaden minimal blieb.
Machten die Weiber doch genauso. Er hatte dem Jüngeren
digitalisch weitergeholfen, und dafür einige Insidertipps
vom Bankkaufmann erhalten, die immer Hand und Fuß hatten.
Fast immer. Er machte Daniel nicht dafür verantwortlich, der
das gleiche 'sichere' Aktienpaket und ebenfalls Federn gelassen
hatte, wenn auch nicht in dem Umfang wie er selbst. Wie hatte
Daniel himself gesagt? * * * Die
Ähnlichkeit zwischen Daniel und seiner Schwester war
auch äußerlich minimal: von weitem, von der Seite und
von hinten. Fast gleich gross, gleiche Haarfarbe und Haarlänge
- nur der ganze Schwung schien beim Mädel hängengeblieben
zu sein: "Das hört sich schrecklich an, tut mir echt Leid, das mit Kim und deiner Firma. Weißt was?" unterbrach er spontan das Klagelied seines Gegenübers. "Bißchen Gesellschaft paßt. Ich wollte nach Bayern, nach unsrer Hütte sehen und bleib höchstens eine Woche - hast Lust?" Taktvoll verschwieg er seinen Plan, sich danach um Kim kümmern zu wollen, die momentan dort, wo sie lag, besser aufgehoben war. Was blieb Mike übrig? Es konnte nicht schaden, den Bruder ein wenig auszuquetschen. Dass der Zug Tiara abgefahren war, hatte er kapiert, aber war deren Amnesie echt und wenn ja, war es irreversibel? Nur die zwei Wanzen in ihrer Wohnung, an die war er nicht heran gekommen, ansonsten gab es für seine digitale Schnuffelei keine Beweise, die Cams im Keller hatte er entfernt, sobald die Rücklichter des Krankenwagens mit Tiara außer Sicht waren, alle Dateien mehrfach gelöscht bzw. überschrieben. Sie war trotz Temperament ein reservierter Mensch, hatte ihm zum Beispiel nie ihre Schlüssel anvertraut oder allein in der Wohnung gelassen. Sowas Mißtrauisches hatte er noch nie erlebt, er selbst war da ganz anders. Die große Frage blieb daher: hatte sie vor, ihn anzuzeigen? Gleichzeitig war Bayern eine gute Gelegenheit, in Ruhe neue Pläne zu schmieden und einigen unliebsamen Menschen aus dem Wege gehen. Die lange Fahrt
verlief ohne Pannen und vorwiegend heiter, Daniel war sichtlich
und hörbar erleichtert, sein Trauercape in Salten lassen zu
dürfen. Sie wechselten sich beim Fahren ab, gröhlten
zur fetzigen Musik und ließen sich unterwegs coronagerecht
zweimal Essen rausbringen. Es gab kaum Mißtöne,
nachdem Mike sich nach ca. dreihundert Kilometer daran gewöhnt
hatte, dass der Sportwagen nicht mehr als 120 hergab –
vielleicht weil es kaum Gegenverkehr gab und die Straßen an
langgezogenen Geisterstädte erinnerte, deren paar
Verkehrsteilnehmer sich benahmen, als wären
sie in der Niederlande. Das Gebäude bestand aus zwei Etagen; oben drei Schlafzimmer und ein Badezimmer inklusive Dusche, unten Küche, Vorratskammer, Gästeklo und ein weiteres Zimmer; alles sah verwahrlost aus und roch miefig, und die Vorräte waren zum Teil abgelaufen - die letzte richtige Überholung lag wohl eine ganze Weile zurück. Netz gab es nicht, nicht einmal Festnetz, nur ein kleines altes Fernsehgerät mit Antenne - offenbar gewollt. Zwei Tage nach ihrem Ankunft rutschte die Hütte fast dreißig Meter den Hang runter, Daniels Sportwagen, der direkt daneben gestanden hatte, wie ein angeleintes Hündchen hinterher; sie hatten geschlafen und waren nicht einmal wach geworden. Tja, und nun saßen sie fest. Daniel war durch
technischen Schnickschnack ebenso wenig zu beeindrucken wie seine
Schwester, das und Mikes Unlust, sich die gute Stimmung durch
Hiobsbotschaften zu verderben, die wie ein Dauerregen auf einen
losprasselten und meist mit C anfingen, hatte ihn davon
abgehalten, sein iPhone herausnehmen und damit anzugeben; das
Wunderding empfing nämlich überall, angeblich auch vom
Boden des Pazifiks, wenn es sein mußte. Er hatte - durchaus
fürsorglich und legitim - die Klappe gehalten und alles auf
sich zukommen lassen. Niemand konnte ihm den blöden
Bergrutsch in die Schuhe schieben, oder beweisen, dass er Empfang
hatte. Sein iPhone verfügte über mehrere unregistrierte
Nummer, die er vorübergehend einsetzen und wegwerfen konnte
und mehrere Schnickschnacks, das i-Tüpfelchen: der GPS war
niemals eingeschaltet gewesen. Fast wie eine Aufforderung - oder
wozu sonst war das alles gut? Sicher, unterlassene Hilfeleistung
war keine Kleinigkeit, aber es ging ihnen doch gut: sie waren
unverletzt, die Vorratskammer war bis obenhin voller Konserven,
Tee und Kaffee, Alkoholisches, Säfte und was noch alles.
Wasser und Strom war vorhanden. Und sie hatten eh vor gehabt, ein
paar Tage zu bleiben. Unterlassene Hilfeleistung wäre es
gewesen, wenn sie in Not oder verletzt gewesen wären. Was
nicht der Fall war. Die erste SMS hatte er beim "Holzhacken" geschickt, eine Tätigkeit, die er freiwillig auf sich genommen hatte - Faulpelz Daniel schien von den ordentlich vertäuten Holzstapeln, denen die kleine Rutschpartie nichts hatte anhaben können, nichts zu wissen. Der Text war einfach, kurz und unverfänglich, er hatte lange daran herumgekaut: "Hallo wertes Fräulein, was ist Ihr Bruder Ihnen wert?" Die Nachricht hatte er sofort nach dem Senden vom iPhone getilgt und 12 Stunden eingetippt - danach existierte die Nummer nicht mehr, es sei denn, er verlängerte. Niemand würde je beweisen können, dass er es gewesen war, und selbst wenn: was denn genau? Es war ein spontaner Testballon, er hatte sich nicht festgelegt, hatte nicht einmal einen Plan: just for fun. Monopoly. Eine Antwort auf seinen erpresserischen Versuchsballon war so schnell nicht zu erwarten, Daniel war auf der Hinfahrt gesprächig gewesen, daher wußte Mike, dass Tiara meistens schlief und bei ihrer reichen Großmutter professionelle Vollverpflegung genoß. Wertvoll war auch die Information, dass Daniel seine Reise nach Bayern nicht gemeldet hatte. Und nun war Lockdown. Ohne
Kontakt nach draußen. Perfekt, fast wie eine Einladung.
Weder Daniel noch er wurden irgendwo erwartet, und unterwegs
aufgehalten hatte man sie auch nicht: warum auch, bei ihnen im
hohen Norden gab es kaum Infizierten - höchstens die paar
Franzosen, die das kleinere Saltener Krankenhaus aufgenommen
hatte. Besser hätte es nicht kommen können, wenn er es
wochenlang geplant hätte. * * * Kim hatte die paar Sachen, die Daniel ihr ins Krankenhaus gebracht hatte, bereits wieder in ihren Rucksack gestopft, als die SMS eintraf. Sie war wackelig auf den Beinen, aber entschlossen, die Farce namens "Großmutter" noch in der gleichen Stunde ihrer Erwachung zu beenden und zu gehen. Kaum war Paps tot, drängte sich die alte Frau, die ihn weggegeben hatte, auf - was dachte sie sich dabei? Zufällig war auch der Professor anwesend, sodass beide Zeugen wurden, wie ihr beim Lesen jede Unze Blut aus dem ohnehin bleichen Gesicht zu weichen schien. "Was ist passiert?!" trompetete Olga erschrocken, während Roko seine Enkeltochter sanft aber energisch zurück zum Bett dirigierte. Die junge Frau krächzte: "Mike hat Daniel entführt" dachte noch: "Okay, sollen die das übernehmen - ich bin dann mal weg!", dem alten Mann ihr Handy wie einen Degen überreichend. Und war weg. Die demonstrative Bevorzugung traf Olga kurz wie eine feine Nadel, aber nur kurz, was soll's: eine Chance war eine Chance - wahrscheinlich ihre letzte. Die alte Frau war entschlossen, alles zu tun, auszuharren und natürlich auch jede Frage wahrheitsgemäß zu beantworten - Fragen auf die sie seit Jahren vorbereitet war. Und die Fragen kamen. Momentan konnten sie nicht viel tun außer auf eventuelle Anforderungen der Entführer zu warten, und obwohl Kim sich rasch erholte, war klar, dass sie der Aufgabe so bald nicht gewachsen sein würde. Die Blackouts waren mehr körperlicher als geistiger Natur, daher blieb sie folgsam im Bett und aß und trank alles, was man ihr vorsetzte, nach jeder pragmatisch kurzen Frage sofort wegnickend - und doch spürte Olga, wie sie aufmerksam, fast saugend zuhörte: "Wir waren zwei Kusinen mit nur einem Studienplatz. Von Anfang an stand fest, dass ich studieren würde, Klara war schon immer häuslicher, eine Lichtallergie machte ihr das Leben außerdem zur Hölle. Nach dem Krieg waren wir die letzten unsrer Familie; damals war es üblich, Kinder aus zerbombten Bereichen zu evakuiert und so landete zuerst ich in Salten, wo man bemüht war Familienmitglieder zusammenzuhalten - sind sogar zur gleichen Schule gegangen. Dank der chaotischen Zeiten erfuhren wir erst später vom Studiumplatz und fingen an zu planen. Ausgemacht war, dass ich sie später finanziell unterstützen würde. Im Gegensatz zu mir war sie bescheiden und brauchte nicht viel: Häuschen auf dem Land reichte ihr. Noch bevor ich schwanger wurde, hatten wir alles genau festgelegt..." "Ein Kuhhandel also", blitzte es kurz und giftgrün aus schmalen Schlitzen hervor, bevor Kim ihre Augen wieder schloß. "Würde ich nicht
so nennen, aber bitte. Nachdem meine außerplanmäßige
Schwangerschaft feststand, hielten wir den Vertrag für
überflüssig. Es ergab sich so. Ihr war klar, dass ich
mich umso mehr dahinterklemmen würde und sie war begeistert
von der Aussicht, ein Kind allein für sich zu haben, ohne
mit den 'Unannehmlichkeiten', wie sie Sex und Geburt nannte, in
Berührung kommen zu müssen. So eine Allergie macht
einsam. Aber du hast sie gekannt - wem sag ich das? Mein neuer
Part war, ihr die zusätzliche Aufgabe finanziell zu
ermöglichen, soweit es in meiner Macht lag. Niemand hatte
damals Geld oder Eltern mit Geld - nicht in unseren Kreisen. Das
Studium stammte von einer gemeinsamen Tante väterlicherseits,
die schon früh nach Schweden ausgewandert war und 78jährig
verstarb; sie hatte mit ihrem schwedischen Mann ein Geschäft,
das gut genug lief, jeden Monat etwas beiseite legen zu können.
Wie viele damals, hatte sie studieren wollen und später für
ihren Sohn gespart, der früh tödlich verunglückte. "Welche Möglichkeiten? Paps Schulbildung war genauso einfach wie die Lehre hinterher. Die Tischlerei kam vom leiblichen Vater Daniels." "Hat er das so gesagt?" Die Frage stammte von Roko, dessen Abneigung für die 'olle Pisshexe' einer penetranten Neugierde gewichen war. "Lassen wir das halt so stehen", kam es schnell und schnodderig von Olga, die genug hatte und nach unten in der eigenen Etage verschwand. "Jaja, hau nur ab, wenn's nicht paßt!" hörte sie ihre Enkelin aufgebracht hinterher rufen. Für "Hast du-nicht-hab-ich-doch-nicht-wohl"-Spielchen hatte Olga bereits als junger Mensch keinen Nerv gehabt: war das nötig? Sie äußerte sich dahingehend, als Roko später herunterkam. "Das, was du Spielchen nennst, raubt anderen unter Umständen ihre Ruhe oder gar Daseinsberechtigung", orakelte der. "Hat die erfolgreiche allzeit bekannte Olga Andrieux schon darüber nachgedacht?" "Das sagt der Richtige!" prustete sie ihm ins Gesicht. Er errötete trotz Professur und Alter: "Vergiß nicht, Olga, du hast mir damals die Möglichkeit einer Wahl genommen", konterte er würdevoll. "Ehrlich gesagt, nehme ich dir das sehr sehr übel." Er plusterte sich etwas auf, selbst wenig überzeugt von seiner Rolle. "Ach?" spöttelte sie. "Selbstredend hättest du Elisa den alkoholisierten Ausrutscher vor eurer Hochzeit gebeichtet, dich scheiden lassen und dich dann mutterseelen-, Quatsch: vaterseelenallein um den Bengel gekümmert? Sei froh, dass ich dir die Illusion, dich stets korrekt zu verhalten, jahrzehntelang bewahrt habe, du Feigling!" Diesmal war er es, der erbost nach unten stolzierte. "Jaja, hau nur ab, wenn's nicht paßt!" konnte Olga sich nicht verkneifen, ihm hinterher zu werfen, über die eigene Albernheit gackernd wie ein Backfisch: das Leben ab achtzig konnte soviel Spaß machen. Wenn bloß der Körper nicht ständig hinterherhinken würde. "Roko?!" trompetete sie keine halbe Stunde später auf seinen Anrufbeantworter, entgegen ihrer Eigenart als Privatier mit viel Zeit, so lange eine Nummer zu wählen bis ein menschliches Wesen abhob: sie mußte noch packen, verdammt, wieso konnte der Hallodri nicht einfach rangehen wie jeder andere? Roko war ein Gewohnheitstier, sie wußte, er war daheim. "Vorhin hat mein Schnüffler angerufen. Das letzte Lebenszeichen vom Handy des verschwundenen Bruders kam von einem Kaff südlich von Garmisch-Partenkirchen. Plain text: wir haben seine location und zuckeln gleich in meinem Wagen los, kommen vorher bei dir vorbeigesegelt wegen der unerwarteten Ehre, dass du uns zu begleiten gedenkst. Tudelu." Natürlich wollte er
mit. Wollte? Er mußte: Die Versöhnung der
Freundinnen paßte Roko überhaupt nicht, wegen eines
Sehfehlers durfte Elisabeth selbst seit einiger Zeit nämlich
nicht mehr fahren und bequasselte
ihn jedesmal, den Chauffeur zu spielen: das Geschnatter hinten
war manchmal mehr als er ertragen konnte. Als Olgas Wagen eine gute Stunde später vor seinem Haus hielt, stand Roko wie eine Säule am Straßenrand, in der rechten Hand eine kleine Reisetasche, links einen Alukoffer. Olga süffisant: "Das sind doch hoffentlich keine Duellpistolen?" "Gute Idee. Guter Mann", lobte Kim trocken, die hinten saß und deren Kopf neugierig in der Lücke zwischen den Sitzen erschienen war. "Ganz ruhig. Wie ihr vielleicht wißt, bin ich berufstätig und..." "Niemand verlangt, dass du mitkommst!" fiel ihm Olga sofort ins Wort, obwohl ihr graute vor der langen Fahrt mit einer Kranken, die alle paar Minuten einschlief. "...also mußte ich mich bereit erklären, ein paar Proben fürs Münchner Klinikum mitzunehmen" übertönte der alte Mann. "Aber auf dem Rückweg", bestimmte Olga ungnädig. "Wir haben es eilig." "Na gut", gab er sich listig geschlagen. Olgas Schwierigkeiten mit den hiesigen Politessen waren ihm bekannt, eine weitere gelbe Karte konnte die sich nicht leisten. "Aber ich fahre!" In Olgas Gesicht arbeitete es: jahrelang das gezischelte "Psst, ich muß mich konzentrieren" oder laute Pfeifkonzerte von Roko, während sie dazu verdonnert worden war, hinten zu sitzen, als sei sie nicht zurechnungsfähig, das wurmte, doch dann zuckte sie die Achseln, stieg aus und setzte sich auf den Beifahrersitz. Irgendwann würde er müde werden, nach Bayern war kein Katzensprung, und irgendwann mußten sie auch wieder heimwärts, stimmt's? Bis dahin konnte sie ein wenig Schlaf tanken. Scheinbar mißmutig gab sie Roko die genaue Adresse. Kim war wieder mal eingeschlafen. Dachten sie. "So", machte das Mädel mit einer Stimme, die Roko bekannt vorkam und Widerrede von vornherein in den Boden stampfte. "Woher wißt ihr von der Hütte?" Roko hob und senkte eine Schulter, was gleichzeitig seine Unschuld und sein Unvermögen anzudeuten schien, sich auf etwas anderes als das jeweilige Vehikel unter, vor und hinter ihnen konzentrieren zu können. "Hab ich meiner Kusine irgendwann überschrieben, dachte, mit der Horde Enkelkids kann sie mehr damit anfangen als ich." "Horde?" kam es empört von hinten, weder die erhobenen Brauen noch die übereinander geschlagenen Armen bei der Zusatzfrage mußte man sehen: "Tischlerei auch?" "Tz", machte Olga. "Ich hatte mit Klara vereinbart, einzuspringen, wann und wo ich kann. Sagte ich das nicht bereits?" "Und nun soll ich dir dafür die Füße küssen?" Olga, die während längeren Autoreisen stets ihre Schuhe abzustreifen pflegte und seit zwei Dekaden im Auto überall dicke Socken herumliegen hatte, hob mit einer für ihr Alter bemerkenswerten Gelenkigkeit ein Bein, mit beiden Händen ihren bestrumpften Fuß nach hinten zwischen den Sitzen schiebend. "Tu dir keinen Zwang an. Zu meiner Zeit hatte man allerdings andere Fetische." Kim schien die gesamte Innenluft des Autos inhalieren zu wollen, bevor sie in ein schallendes Gelächter ausbrach, in das Olga prompt einfiel, Roko schüttelte den Kopf, konnte sich aber ein Schmunzeln nicht verkneifen. "Fein", meinte Olga schließlich, nachdem sie sich vor allem wohl den Stress heruntergelacht hatten. "War auf einen Battle gefasst, im Auto fehlt mein Treppenhaus als Ausweichmöglichkeit irgendwie. Also", setzte sie unaufgefordert ihren Rapport fort. "Wie bereits erwähnt wurde das iPhone deines Bruders dort in der Gegend zuletzt geortet. Daniel hat etwa 250 km von der Hütte entfernt Essen per Handy bestellt und kurz danach abgeholt, zusammen mit einem Mann, dessen Beschreibung dem Subjekt ähnelt, stark ähnelt - habe also nur kombiniert, that's all. Miss Marple at her best." "Sollten wir nicht besser die Polizei verständigen?" kam es von Roko. "Nein!" waren sich die beiden Frauen unisono einig. "Fernerhin", fuhr Olga fort, als hätte es den Zwischenruf nicht gegeben, "habe ich herausgefunden, dass der Hang, auf dem die Hütte steht, vor wenigen Tagen dank exzessiver Regenfälle nach ebenso exzessiver Trockenheit ca. dreißig Meter Richtung Tal gerutscht ist. Welcome to the #climatecrisis." Schweigen. Und nach einer Weile von hinten: "Schlage vor, ihr seid ruhig, damit ich die Aufforderung eines Lebenszeichens zusammengebastelt krieg, die sich nicht wie eine anhört." "Ausgezeichneter Plan!" Sie hörten es hinten piepen, dann leise Schnarchtöne - beruhigende Musik für Olga. Vor eineinhalb Stunden hatte sie Schwester Maya gebeten, ihr Auto zu holen und mit Blinklichtern vorm Haus zu warten, während sie selbst alles auffindbare Bettzeug die Treppen hinunter und anschließend ins Auto geworfen hatte, kurz später war Kim wackelig und so langsam gefolgt, dass ihr mulmig wurde. Nun wußte sie, dass sie es hören bzw. nicht hören würden, falls Kim inmitten des Daunenzeugs keine Luft bekam. Gelegentlich hielten sie an Tankstellen und kauften ein, was ihrer Meinung nach das junge Volk so konsumierten: von Chips bis Zwieback, Softdrinks und Schnaps. Die Oldies selbst waren ohne Absprache bemüht, nicht allzu viel zu sich zu nehmen - wie Olga meinte: "Die Überlegung, ob das, was in der freien Natur bei mir hinten runterläuft, eventuell noch lebt, mißfällt mir irgendwie - können wir ja nachholen, nee?" "Nächstes Mal kaufe ich mir einen Wohnwagen mit Autopilot", meldete sie sich erst wieder, nachdem es bereits wieder hell geworden war. "Bin ausgeschlafen - soll ich das Lenkrad übernehmen? Du hast wieder Rot übersehen, und das vorhin war kein Zebrastreifen, sondern ein Igel, der fixer war als du." "Hab ich nicht", bellte Roko leise zurück. "In Ordnung, das war ein Ufo. Roko, anhalten - dort vorne ist eine Bushaltestelle. Dalli." Er öffnete murrend
Sicherheitsgurt wie Tür und beschloß, nach dem
Umsteigen unverrichterdinge die Augen zuzumachen, seiner
Erfahrung nach die beste Einstellung, wenn man etwas nicht ändern
konnte. Er schlief sofort ein. "Das Objekt hat sich gemeldet und ein Foto vom schlafenden Daniel vorm Hintergrund der gestrigen Sendung #KlimaVorAcht geschickt. Tzz", wackelte Olga mit dem Kopf, "wenn Klara wüßte: TV in the hut, oioio." "Aha, er ist vom Subjekt zum Objekt mutiert - wie erfreulich. Und Dings?" erkundigte er sich vorsichtig, den Kopf nach hinten zuckend. "Dings", kam es aus der angedeuteten Richtung, "geht es gut." "Schön", gab Roko zufrieden zurück. "Wie weit sind wir?" "Noch etwa 90 Minuten. Übernimmst du?" hielt Olga ohne eine Antwort abzuwarten am Straßenrand. Sie fuhren auf einer Landstrasse, viel war um diese Zeit nicht los. "Meine Finger schlafen ein - und my ass erst!" "Ol-ga!" schnarrte Roko noch mahnend, als sei Kim erst sieben, bevor er schnell ausstieg, ehe das verruchte Weib es sich anders überlegen konnte. "So. Jetzt mal Tacheles: Oma Klara hat einen Banker als Paps biologischer Vater angegeben", kam es von hinten, sobald sie Fahrt aufgenommen hatten. "Wie paßt das zusammen?" Roko machte einen Schlenker, fing den Wagen aber rechtzeitig genug, um einen Käfer vorbeizulassen, von dessen Fahrer sie vornehmlich den mittleren Finger sahen. "Ol-ga!" wiederholte der Fahrer, diesmal aus einer tiefen Grotte. "Entschuldige mal, Klara war eine unverbesserliche Plaudertasche und als Student warst du nicht eben the Bank of America, mein damaliger Betthase aber schon. Dass er sterilisiert war, tat nichts zur Sache, der Skandal hätte ihm karrieremäßig das Genick gebrochen, also hat er geblecht. Freiwillig - also gefragt hatte ich nicht, damit das klar ist. Kann auch sein, dass er mich ein wenig mochte, die Beziehung hat immerhin über dreizehn Jahre gehalten und war mit Abstand meine schönste. Das Geld war für die Geburt und alles Rundherum, sowie zur Absicherung der ersten Zeit mit dem Kind, bis ich selbst verdiente. Versprochen ist versprochen; selbst Konfuzius hätte eingesehen, dass es fürs Gemüt und alles andere besser ist, einen Banker zu melken als dessen Bank zu überfallen. Für mich selbst hab ich keinen bloody Penny von ihm genommen! Jawoll", schränkte sie widerwillig ein, als hätte es Widerspruch gegeben, "er hat mir zum Anfangskredit meines Geschäftes verholfen, aber hochoffiziell, habe ich mit Zins etcetera zurück bezahlt. Niemand gab damals einem weiblichen Nobody einen Kredit - auch heute übrigens nicht, möchte ich wetten. 'Jetzt mal Tacheles', hat Klara auch immer gesagt", drehte sie den Kopf mühsam nach hinten, mit den Beinen ging das offenbar leichter. "Wir wußten: sie kann das, und ich kann was anderes. Klara hatte Angst, ich würde ihr die Schau stehlen und hat darauf bestanden mit offenen Karten zu spielen, sonst wär ich gerne öfters als 'Tante' vorbeigekommen. Was soll ich sagen: 'Es tut mir Leid'? Es war die beste Lösung, verdammt!" "Also bin ich doch?" brachte Roko endlich hervor. Es klang nicht traurig. "Ist mir zu hoch", war Kim mit dem Thema noch nicht durch. "Warum hat der Banker meinen Bruder in seiner Bank aufgenommen und gefördert? Was hatte er davon?" "Oh", machte Olga. "Ich hatte ihn darum gebeten. Woher weißt du? Das hat nicht einmal Klara gewußt, die in solchen Dingen heikel war und ungern um Gefälligkeiten bat. Top secret." "Oh", machte ihre Enkeltochter im gleichen Tonfall. "Bis eben war es top secret." "Reingefallen", murmelte Olga halb zu sich selbst, belustigt vor sich hinkichernd. "Da wir schon beim Ausplaudern von Geheimnissen sind", warf Roko zwischen den beiden, wie um anzudeuten, dass er ja auch noch da wäre. "Was ist eigentlich passiert zwischen dir und diesem Mike? Was Schlimmes?" Die ihnen bereits bekannten Schlafgeräusche ihrer Enkeltochter klangen zu ihnen herüber. "Ein 'geht dich einen feuchten Dreck an' hätte mir gereicht. Denn eben nicht", zuckte der Fahrer die Achseln. "Liebe Tante",
ergänzte Olga elisabethhaft, ebenfalls die Schultern
hochziehend. VI. schräglage Die Hütte hatte beim
Runterrutschen eine breite ungleichmäßige Schneise
gerissen; es sah aus, als hätte ein Riese jauchzend sein
Alter vergessen, um seitlich den Hang herunterzurollen; wären
da ein oder zwei ausgewachsene Bäume im Wege und hätte
das Häuschen noch die ursprünglichen Baumarktlatten,
die Hütte hätte den Rutsch nicht überstanden: Wozu
war man Tischler? Zum Hinabklettern des halbsteilen Hanges, der
jahrelang vom Geschwisterpaar als Riesenrutsche benutzt worden
war, benötigte das Trio dank teils versteckten Krater und
Wurzeln, Matsch, dem Alter der Senioren und Kims fehlender
Kondition wesentlich länger. "Behalte das Objekt bitte im Auge!" ordnete das Mäuschen an, bevor sie sich nach oben begab. Anhand des Gepolters konnten die Senioren und die junge Männer exakt verfolgen, in welchem Teil sie sich gerade aufhielt: als würde dort nachträglich den Bergrutsch stattfinden. Nach knapp elf Minuten kam sie langsam die Treppe wieder herunter, schneeweiß und knittrig im Gesicht. Es war zuviel. "Kim", machte der Bruder sanft. "Du solltest dich hinlegen. Bitte!" "Und der?" Sie deutete auf Mike. "Wir passen auf!" versicherte Olga. "Ihr habt hoffentlich den Schlüssel fürs Gä-steklo nicht verloren?" "Na, hör mal", fing Mike, der sich bis dahin eher zu amüsieren schien, an sich zu wehren: "Darf man fragen, wer oder was Ihnen das Recht gibt...?" Weiter kam er nicht. Beim Klang seiner Stimme bäumten sich Kims Lebensgeister auf, impulsiv drehte sie ihm den Arm auf den Rücken und bugsierte Mike, der sich vor Überraschung kaum wehrte, unsanft ins Gästeklo. "Er hat bestimmt alles gelöscht, aber sucht ihr bitte weiter und überlegt, wo er sein iPhone versteckt haben könnte?" bat sie krächzend, bevor sie sich auf der Couch in eine Decke einrollte und die bereits bekannten Schlafgeräusche von sich gab. Die alten Leutchen sahen von sich auf Kim und dann wieder zurück. "Was hast uns für eine Enkeltochter besorgt, sag mal?" wollte Roko mit erhobenen Augenbrauen wissen. "Tu nicht so, als würde es dir nicht gefallen", erwiderte sie glucksend. Sie wandte sich dem Bruder dieser Sensation zu: "Wir suchen sein iPhone. Wo war er, wenn ihr nicht beisammen ward: draußen, aufm Dach, Luft schnappen?" Der schlug sich mit der flachen Hand an die Stirn: "Stimmt, ist immer freiwillig Holz holen gegangen, obwohl er laut Kim noch fauler ist als ich. Soll ich Ihnen zeigen, wo...?" "Nix", fiel Olga dem jungen Mann ins Wort. "Quetsch deine Matratze vors Gästeklo und schlaf dich aus. Deine Schwester macht aus uns allen ohne Axt Kleinholz, wenn er entwischt - erst brauchen wir das Dingsbums. Und hier wird geduzt, klar: we are family. Have a nice nap." Und zu Roko gewandt: "Kommst mit, Alder?" Sie fanden das iPhone in einem gut verschlossenen Gefrierbeutel hinter einer losen Platte rechts neben der Hütte, hatten dieser Ecke besondere Aufmerksamkeit geschenkt, da dort offenbar das Holz gehackt wurde. Leider war es gesperrt. Nicht sonderlich technikaffin beschlossen sie einträchtig wie selten, im Eßzimmer zu warten, bis die Geschwister zu Ende geschnarcht hatten. Sie selbst waren ausgeschlafen und hatten Zeit. Dachten sie, bis es dezent an der Tür klopfte. Konsterniert sahen sie sich und dann die Tür an und beeilten sich, diese zu öffnen und von außen hinter sich zu schließen, bevor noch jemand aufmerksam werden konnte. Es waren zwei Polizeibeamte, die nach dem Rechten schauen wollten, korrekt mit Gesichtsmasken ausgestattet: "Wir haben das Auto oben gesehen, das muß ja eine tolle Talfahrt gewesen sein. Alles in Ordnung bei Ihnen?" Die Maskierung brachte Roko auf die Idee, sich mit vollem Namen und Titel vorzustellen, bevor er die Frage wahrheitsgemäß antwortete: "Nicht ganz." Einen warnenden Zeigefinger vor den geschürzten Lippen, entfernte der Mediziner sich noch mehr vom Hause - fast auf Zehenspitzen wich das uniformierte Paar respektvoll rückwärts trippelnd aus, darauf bedacht, den 2-Meter-Abstand nicht zu veringern. Roko, dem das verräterische Zucken um Olgas Mundwinkeln nicht entgangen war, beeilte sich zu erläutern, warum er hier war. "Ich habe einige Virusproben der in unserer Klinik liegenden Franzosen mit dabei, soviel darf ich verraten, stand ja in allen Zeitungen. Es wäre gut, wenn sich dennoch alle sicherheitshalber fernhalten würden - wir haben alles, was wir brauchen. Ach, und vielleicht richten Sie dem Münchner Klinikum aus, ich käme zeitnah - meine Enkelkinder sind unerwartet aufgetaucht. Danke!" Begeistert salutierten die Beamten, machten auf dem Absatz kehrt und kraxelten zügig den Hang wieder rauf, kein Zweifel daran lassend, dass alles genaustens ausgeführt werden würde. Das war zu viel für Olga, mit fliegenden Haaren brachte sie die Tür der Hütte zwischen sich und der Außenwelt, bevor sie in ein herzhaftes Gelächter ausbrach. Fast hätte sie Kim umgerissen, die aufgestanden war und nun widerwillig schmunzelnd, wissen wollte, was los war. Roko, der langsamer gefolgt war, hörte sich kopfschüttelnd die Version von Drama Queen Olga an. "Virusproben?" hob Kim die Augenbrauen. "Was die Leute alles glauben, wenn jemand mit dem Titel wedelt." Der Professor verwahrte sich gegen die Unterstellung, gelogen zu haben. "Im Alukoffer sind tatsächlich Proben der Franzosen, die bei uns liegen; München möchte sie mit den bereits vorhandenen vergleichen. Schon mal von Mutationen gehört? - Übrigens, hast das gesucht?" hielt er ihr wie ein Magier das Smartphone hin. "Leider gesperrt." Nach kurzer Inspektion stellte Kim fest, dass das iPhone nur via Fingerabdruck zu entsperren war. "Mikes Fingerabdruck, um genauer zu sein - ich entsinne mich, ihn ein paarmal dabei beobachtet zu haben. Kein Problem", setzte sie mit glitzernden Augen hinzu, "wir tun ihm etwas in den Wein." Olga nahm erfreut das Wörtchen 'wir' zur Kenntnis, während Roko wieder mal mit dem Kopf wackelte und anfing, gelehrt an seinen Fingern abzuzählen: "Das wären dann bloß mal eben unerlaubtes Parken, Körperverletzung, Freiheitsberaubung, Diebstahl, Vergiftung..." "Und?" unterbrach Olga seine Liste, sich Kim zuwendend: "Hast sowas da? Gib her, ich mach's rein - I'm too old to get eingesperrt anyway." "'Locked in' wär der korrekte englische Begriff - außerdem sperren die notfalls auch Hunderjährige ein", half Roko herablassend. "Weet ick", konterte sie. "Wollte erstens eine Verwechslung mit dem Coroner Lockdown vermeiden, zweitens mögen auch Polizisten und Richter ältere Frauen lieber, nachdem es euch alten Säcken perfekt gelungen ist, euch zu bloßen #Boomer zu degradieren." Der Enkeltochter dieser Streithähnen fiel es sichtlich schwer, ernst zu bleiben: "Ihr seid unmöglich, wirklich. Das Zeug ist im Bad oben, geschmacksneutral und fast ewig haltbar, Klaras letzte Wochen wären ohne recht schmerzhaft gewesen." Beim letzten Satz mußte sie ihre Stimme heben, um den einsetzenden Krach des Klo-Objekts zu übertönen. Sie sahen sich an. "Aufs Klo will er bestimmt nicht", mutmaßte Olga altklug. "Rauslassen und fesseln! Was ist mit den Autoschlüsseln, sind sie an einem sicheren Ort? Die nächste bewohnte Behausung ist eine gute halbe Stunde mitm Auto, allerdings nur wenn man weiß, wohin - zu Fuß schafft der das nicht ohne Ortskenntnisse und gutes Schuhwerk - zumal es hier im tiefsten Wald in wenigen Stunden dunkel wird." Kims: "Woher weißt du?" wurde von ihr Bruders: "Laßt uns erst mal gescheit essen!" zugedröhnt, der seine Matratze hochgestellt hatte und verhungert aussah. Frühstück gab es spät, dafür umso reichlicher. Weil er zuerst eingetrudelt war, schien Daniel sich als Gastgeber zu betrachten und dackelte hin und her: sobald etwas leer war, verschwand er und kam mit irgendwas anderem wieder. Mikes Knöchel hatten sie vorsichtshalber mit Nylonstrumpfhosen an den vorderen Beinen seines Stuhles festgebunden. "Ähm", glaubte das Objekt/Subjekt, protestieren zu müssen. "Euch ist hoffentlich klar, dass das ein Nachspiel haben wird? Es ist nur eine Frage der Zeit, bis die Polizei hier sein wird, eine Reihe von Freunden wissen genau, wo ich bin und dürften sich allmählich Sorgen machen." Niemand lachte. "Ähm" äffte Olga, "ich weiß nicht, wie ihr das sieht, aber ich möchte in Ruhe zu Ende speisen - wir könnten eventuell vorhandene Krachmacher ja wieder einfachheitshalber irgendwo einsperren..." Darauf hatte der Krachmacher nicht zuletzt dank der eigenartigen Stimmung am Tisch wenig Lust: ausgesucht höflich und doch extrem verfressen saßen sie am Tisch wie Komödianten auf einer Kindergeburtstagsparty. Nur Olga schien sich zusätzlich über irgendwas köstlich zu amüsieren, zappelte, kicherte und trat wahllos unterm Tisch, was ihr von allen Seiten unwirsche Blicke eintrug - selbst von Mike, der demonstrativ stumm neben ihr saß, um keinen Rausschmiß zu riskieren. Hin und wieder stand die alte Frau auf und tänzelte mit Weinglas oder Weinflasche zur Küche und wieder zurück. "Olga", machte Roko nach ihrer dritten Runde vorwurfsvoll. "Jawoll, Herr Professor - was kann ich armselige Sterbliche für Eure Hochwohlgeborene tun?" "Eventuell solltest du deine Trinkgewohnheiten ein wenig überdenken?" schlug der vor. "Der Wein hat jede Menge Zucker und..." "Du hast ja sooo Recht," unterbrach sie kichernd. "Prost, Kinners, auf alle abwesende Zuckerrübenbauer des Hohen Nordens! - So!" schien Olga genug von den eigenen Possen zu haben, als alle sich satt gegessen hatten und dennoch sitzen blieben. "Ich stelle hiermit fest, dass das Objekt sich nach wievor weigert, den Standort seines Dingsbums zu verraten, und wär dafür, den Lümmel erneut aufs Klo zu räumen. Was haltet ihr davon? Alle, die nicht die Hand heben, werden mit ihm eingesperrt." "Das war wohl wieder ein Wort mit X", verkundete Daniel, als sie sich nach dem Abwasch, diesmal ohne Mike, alle um den Eßtisch wiederfanden. Er setzte nach einem Blick in Olgas Richtung tröstend hinzu: "Nicht weiter schlimm, kann ja nachher eine Flasche Rotwein ins Klo schmuggeln, zusammen mit einigen Decken und Kissen - immerhin waren wir mal gemeinsam auf einer einsamen Insel, vielleicht vertraut er mir." "Wieso?" wollte Olga wissen. "Die Decken? Es wird nachts ziemlich kalt, nicht nur um diese Jahreszeit." "Meinte das Wort mit X - 'nix' nehme ich an? Denkt ihr wirklich, er ist so blöd und trinkt etwas anderes außer Wasser direkt aus der Leitung oder nascht auch nur ein Stückchen Butter, ohne dass wir vorher daran geleckt haben?" "Will heißen?", fragte Roko ungeduldig. "Klartext, bitte, Olga - die jungen Leute möchten bestimmt noch Schlaf nachholen." "Will heißen, dass offenbar niemandem aufgefallen ist, dass der Rotwein meine Lippen allenfalls ein wenig naß gemacht hat, das süße Zeug ist nämlich nicht mein Fall", versuchte die alte Frau, nicht allzu triumphierend auszusehen. "Meine rote Bluse war eine glückliche Fügung." "Reicht die Menge?" verstand ihre Enkeltochter als erste. Und dann: "Deswegen hättest mich nicht ständig treten müssen. Echt!" "Klar reicht's. Das Objekt braucht einstweilen weder Decken, Kissen noch Nylonstrumpfhosen. Laß uns aber sicherheitshalber warten, bis er vom Klo plumpst, okay? Ach, war das dein Bein?" grinste sie Kim spitzbübisch zu. "Bißchen vom Wein mußte ich ja unauffällig verschwinden lassen, die besoffene Zappelei und Treterei war eine gute Tarnung." Kim rollte ihre Augen. "Stimmt, er war zum Schluß noch dröger als sonst, ist ohne Widerspruch aufs Klo gegangen. Weckt mich wenn es rumst, bitte. Hast gut gemacht", mußte sie widerstrebend zugeben, bevor sie gähnend aufstand und sich ohne weitere Worte auf ihren Stammplatz auf der Couch einrollte. Und weg war sie. "Kannst du das auch?" wandte Roko sich mit erhobenen Brauen an den Bruder dieses Einschlafwunders. "Nein", mußte der neidvoll zugeben. "Aber Vorsicht, sie kann auch im Schlaf noch zuhören." "Du selbst siehst aber nicht müde aus?" versicherte sich Olga hoffnungsvoll. "Bin putzmunter. War nicht eine Woche im Keller eingelocht." Mit einem klackenden Geräusch ihres Gaumens verschwand Olga nach oben und kam mit vier Fotoalben wieder: "Ehrlich gefunden!" Erst nach einer Viertelstunde hörten sie es nebenan rumpeln und eilten hinaus, Kim, deren Ohren offenbar tatsächlich auf Dauerempfang waren, im Schlepptau. Der Inhalt von Mikes iPhone war nichtssagend. Sein Bekanntenkreis war zwar groß - Kim stellte aufschnaubend fest, dass er ihre Freunde nahtlos in Grün übernommen hatte -, chatten oder einfach Emojis austauschen war aber nicht drin. Nicht einmal mit seiner Schwester. Seine letzte halbwegs persönliche Nachricht ging an die Putzfrau, die er großspurig Haushälterin nannte und einmal im Monat reinschaute: vor fünf Wochen hatte er sie fristlos gekündigt mit der Aufforderung, alle Schlüssel binnen 24 Stunden in seinen Briefkasten zu werfen. Die restlichen betrafen Leute, denen er Geld schuldete und entweder vertröstet oder abgewimmelt hatte. Keine persönlichen Notizen, keine Fotos. Nur Termine mit mysteriösen Abkürzungen. Nicht einmal Geburtstage. Die zwei anonymen Nachrichten an Kim waren unauffindbar, aber im Grunde nicht mehr notwendig. "Mit sowas warst zusammen?" sah Daniel seine Schwester verblüfft an. "Ein Katalog mit Unterwäsche für Menschen im fortgeschrittenem Alter stell ich mir spannender vor." "Nicht so voreilig, junger Mann", versuchte Olga eine Mae-West-Parodie, ihre rote Bluse mit beiden Händen seitlich aufreizend langsam glatt streichend, Rokos Mißbilligung zum Trotz. Kim, die neben ihrem Bruder saß und lautlos mitgelesen hatte, sah ihren Bruder indigniert an. "Hörst auch mal zu, wenn man mit dir redet? 'Ein Stoffel', habe ich monatelang vergebens versucht dir einzubleuen, oder hast ihn zum Begucken von Omastrapsen nach Bayern mitgeschleppt?" Der hob ergeben beide Hände: "Okay, krieg dich wieder ein, er ist wohl nur charmant, wenn er was will - bin auch auf ihn reingefallen." "Laßt uns wie andere normale Leute nachts schlafen und den Kaiser" - Kim sah auf den selig dahinschlummernden Stoffel, den sie auf drei Stühlen verteilt hatten - "wieder auf den Pißpott setzen, wo er hingehört". "Der kaiserliche Vergleich hinkt", beanstandete Olga nach erfolgtem Umzug. "Nicht der Fischer war der Übeltäter, sondern seine Fru. Was hast du vor, o holde Ilsebill?" "Gute Nacht." Es dauerte, bis der Pißpottkaiser wach wurde, diese Zeit nützte Kim wie gehabt horizontal, während die Oldies mittels Fotoalben und Daniel ihre großelterlichen missing pieces eingesetzt bekamen. Rokos Interesse für Kindheit und Jugend des einzigen Sohnes und der einzigen Enkeltochter war nicht geringer als das von Olga, aber irgendwann war sein Speicher voll. Gähnend erkundigte der Opapa sich nach Kims Lieblingsgericht und wurde hellwach nach dem Hinweis vom Gärtner Daniel, nicht nur genügend Tomaten, Karotten, Zwiebel und Kräuter aus Salten mitgebracht zu haben: "Im Vorratsraum sind reichlich Rindfleischdosen, die nur minimal abgelaufen sind." Händereibend verschwand der alte Mann in der Küche, im Rücken der lüsternen Bitte Daniels, ja alle Dosen zu verbrauchen. Nachdem die Tomatensoße eine Weile sanft vor sich hingebrutzelt hatte, gesellte Kim sich zu ihm, schnüffelte und machte: "Hm hm." "Ich kann das", versicherte Roko, als ihm klar wurde, dass sie hier Wurzeln schlagen wollte. "Stör ich?" Es klang nicht besorgt. Roko bedankte sich im Stillen bei seinem Sohn: mein Gott, er hatte einen Sohn! -, der es offenbar nicht versäumt hatte, seine Kinder mit Selbstbewußtsein zu versorgen. Er machte sich nicht die Mühe zu antworten, und fuhr fort, die Soße abzuschmecken, dabei schmatzende Geräusche von sich gebend. "Hm, außer stundenlang Köcheln fehlt wieder was." Er tauchte einen sauberen Löffel in die Soße, ihn nach ausgiebiger Pusterei Kim hinhaltend: "Mund auf!" Sie gehorchte, ihrerseits schmatzend, den Kopf schräge haltend wie ein lauschender Vogel: sie war seine Enkeltochter und wunderschön - wie bald würde er wieder Gelegenheit haben, das festzustellen? "Nun?" "Zimt." Er klatschte sich an der Stirn. "Aber natürlich!" Er schaute sich im Gewürzfach um, fand, würzte und probierte. "War auch mein Leibgericht, konnte meine Frau perfekt kochen, was vor allem dann geschah, wenn ich kurz vorm Umkippen war." Sie hatte ihn mit der gleichen unverfrorenen Aufmerksamkeit begutachtet wie er sie. Sie lächelten sich an. "Wie hättest du als junger Vater reagiert, mal ehrlich jetzt?" Er seufzte, verstand sofort. Die Frage war ihm ständig im Kopf herumgespukt, seit er von seinem Sohn erfahren hatte. "Die Hexe hat nicht Unrecht. Ich habe Olga übrigens durch Elisabeth, meine Frau, kennengelernt - fast gleichzeitig eigentlich", wich er scheinbar aus. "Elisabeth? Mochte sie keine Spitznamen?" Er lächelte erneut: wer außer seinem eigenen Fleisch und Blut konnte eine solche Frage stellen - nicht einmal Elisabeth hatte ihn das jemals gefragt. "Doch, aber ich nicht. Sag bloß", weitete sich sein Lächeln zu einem breiten Grinsen, "du auch?" Ohne ihre Entgegnung abzuwarten, setzte er seine umständliche Antwort auf ihre Frage fort: "Beim Studium in Berlin hatten sie sich von Anfang an ein Zimmer geteilt und wider Erwarten ausgezeichnet verstanden. Zwei so gegensätzliche Frauen habe ich selten kennengelernt. Elisabeth war eine dieser stillen, wenn auch keineswegs grauen Mäuschen, die immer irgendwo im Hintergrund sitzen und lesen oder nähen; am liebsten hätte sie gestrickt, wollte aber die Gespräche nicht stören. Das genaue Gegenstück von Olga also, die gerne ihre Mitmenschen herumschubst - natürlich zu deren Besten. Unsere Vermählung war ein gutes Beispiel hierfür, Olga hing sehr an meiner Frau - fast wie an einem Glücksbringer, und doch hätte Elisabeth ihr Studium ohne Olgas Unterstützung oder besser Einmischung nie hingeschmissen." Er war nicht untätig gewesen, hatte den Wasserkocher gefüllt, eingeschaltet und den Topf mit Tomatensoße auf die kleinste Platte geschoben. Er sah fragend zu ihr hin. "Weiter", machte sie nur. "Du willst wissen, wie es dazu kam - es war tatsächlich ein Ausrutscher. Elisabeth war für einige Wochen nach Hause gefahren, um die Hochzeit vorzubereiten - sowas liegt mir nun mal nicht, und sie war froh, mir etwas abnehmen zu können. So war sie. Ihre Familie hatte ursprünglich was anderes für sie geplant: Studium und dann Beamte, und sie selbst hatte nie etwas dazu gesagt, also geschah es. Tja, Eltern, Großeltern, Tanten und Onkel - alles Beamten..." "War es damals nicht üblich, alles hinzuschmeißen, sobald ein vielversprechendes Mannsbild ernste Absichten hatte?" Sie entnahm einer seitlichen Kammer einen Topf, kippte das brödelnde Wasser rein und füllte den Kocher erneut. Es war ein Trumm von Pott, Roko schaltete die zwei Gasflammen darunter an. "Schon. Wie soll ich sagen? Sie war nie gerne Student gewesen, konnte weder mit ihren freigeistigen Gleichaltrigen noch mit den Blaustrümpfen etwas anfangen. Und doch hätte sie die fehlenden Semester alle zu Ende studiert und auf mich gewartet. Olga fand das selten dämlich und sagte es auch, hat sich Weihnachten bei Elisabeth untergehakt und das mit deren Familie gedeichselt. Einfach so. Du hättest mal erleben sollen, sie erleichtert und froh Elisabeth danach war; seither war sie komplett auf Familienleben und Kinder eingestellt, und vor allem während unserer ersten Ehejahren überglücklich. Mit Emanzipation hat das nichts zu tun, so war sie." "Und dann?" Sie hatte sich hingesetzt und fing an, die restlichen Dosen mit Rindfleisch aufzumachen. "Vier Fehlgeburte." Er mußte schlucken, die Emotionen, die bei diesen zwei Worten hochkamen, wegdrängen. "Tut mir Leid. Adoption?" "Adoptieren kam für sie nicht in Frage, sie war der Ansicht, es würde ihr bei 'fremden' Kindern an Bauchgefühl fehlen und sie kläglich versagen: eine halbe Mutter wollte sie keinem Kind zumuten. Hab mein Bestes gegeben, ihr das auszureden - nix zu machen. - Aber zurück zum Thema: Elisabeth war scheußlich eifersüchtig, nur auf Olga nicht - der vertraute sie blind. Ich bin mir nicht sicher, ob sie Olga jemals verziehen hätte." Er zögerte, bevor er leise hinzusetzte: "Oder mich." "Wie kam es dazu?" Er zog die Schultern hoch.
"Wir waren eine kleine Gesellschaft, nicht nur ich hatte das
begehrte Diplom endlich in der Tasche. Fast alle waren blau, ich
erinnere mich nur noch an Fetzen und habe Jahrzehntelang
geglaubt, ich hätte es geträumt. Verdammt, man hat Olga
nicht das geringste angemerkt, sie war unser Brautjungfer und ist
in all den Jahren immer für Elisabeth dagewesen. Hab sie
nach jeder Fehlgeburt heimlich angerufen, weil sie als einzige in
der Lage war, sie abzulenken." "Er ist wach!" platzte Daniel in das Gespräch. "Deswegen bin ich aber nicht hier, wenn ich ehrlich sein soll. Im ganzen Haus duftet es himmlisch, und wenn nicht bald etwas geschieht, garantiere ich für gar nichts und fang an zu singen!" Statt zu antworten fing
seine Schwester auf diese Drohung sofort an, den Tisch zu decken,
worauf Daniel sich händereibend daranmachte, ihren Gast aus
dem Klo zu befreien. Als alle mit zur Hälfte geleerten
Teller beisammen saßen und schmatzten, platzierte Kim ihre
Bombe so emotionsfrei auf den Tisch, als verkünde sie, einen
Job ergattert zu haben, der zwar doof ist, aber wen
kümmert's: Eine Weile sagte niemand etwas. Sie aßen weiter, als würden sie das eben Gehörte über den Gaumen prüfen wie ein exotisches Gericht. "Aha", gab Olga als erste ein Lebenszeichen von sich. "Hm", schloß sich Roko sofort an. "Und warum, wenn ich fragen darf?" forschte Daniel, leicht verbittert darüber, seine Verdauung so mitten drin gestört zu bekommen. "Genau!" stürzte Mike sich auf diese erste vermeintlich zu seinen Gunsten vorgebrachte Einwand. "Ich habe dir nichts getan, der kleine Scherz im Keller war von dir ausgeknobelt und ursprünglich mir zugedacht gewesen." Er holte Luft: "Schön übrigens so nebenbei zu hören, dass deine sogenannte Amnesie sich verflüchtigt hat, aber wenn du glaubst..." "Von welchem kleinen Scherz ist hier die Rede?", schnitt Olgas Stimme ihm wie ein Hackbeil das Wort ab. Kim erklärte es in wenigen Worten, Gesicht und Körper voller Abwehr, aber entschlossen es hinter sich zu bringen. Sie setzte leise hinzu: "Mein Streich sollte das Weekend nicht überdauern, nicht mal zwei Tage also - und nicht eine ganze verdammte Woche!" "Dir haben wir es also zu verdanken", brachte Daniel, der kreidebleich geworden war, "dass Paps gestorben ist? Du hast gewußt, der ist krank und haust trotzdem ohne ein Wort ab, du Arschloch!" "Hat er von deiner Rotweinallergie gewußt?" wollte der Mediziner schmallippig wissen. "Ja doch", beeilte sich Mike, weiteren Beschuldigungen zuvor zu kommen. "Aber woher hätte ich wissen sollen, dass kein Wasser im Keller ist?" argumentierte er wie ein Geschäftsmann mit den besseren Karten. "Du denkst wohl, mir ist die Verwanzung der Kellerräume entgangen?" schoß Kim zurück. "Keinen Schritt, keine Bewegung konnte ich machen, ohne dass du's erfahren hast. Und zwar nicht nur im Keller, sondern im ganzen Haus seit dem Tag deines Einzugs." "Beweise es!" sprang Mike trotz Fesseln auf die Füße, triumphierend auf sie heruntersehend wie eine Götze. "Setzen!", bellte Olga, ihn gleichzeitig einen Stoß versetzend, der ihn ohne Wand mitsamt Stuhl hintenüber katapuliert hätte. "Mir reicht das Wort meiner Enkelin. Menschen, die in ihrem Adressenbuch bloße Initiale und keine Geburtstage führen, sind mir suspekt!" "Dito!" sekundierte Roko. "Genau!" kam es fast gleichzeitig von Daniel. "Was?" lachte Mike falsch auf. "Ihr habt mein iPhone also gefunden und geknackt. Das wird euch teuer zu stehen kommen - was wollt ihr machen: mich in einen Gletscher schubsen, Ötzi der Zweite oder was?" Er lachte nochmal, diesmal länger, wie um zu zeigen, dass er es konnte. "Covid 19", sagte Kim nur. Olga, Roko und Daniel starrten sie an, sich an und dann Mike an. Der schien das als Aufforderung zu deuten. "Covid 19?", wiederholte er höhnisch. "Ich soll also mit einem Virus gerichtet werden? Du hast sie nicht alle! Ich verlange, dass ihr sofort mein iPhone rausrückt und dann könnt ihr euch auf eine Anzeige gefaßt machen, die seinesgleichen sucht!" Roko sprach langsam: "Zuerst essen wir zu Ende. Dann macht ihr den Blödmann etwas ordentlicher fest, aber bitte nehmt wieder alte Nylonstrümpfe, deren Abdrücke verschwinden nämlich besser, und binde sie flach über die Kleidung", seine Anweisungen waren höflich und korkentrocken, als säßen sie an einem OP-Tisch. "War eine ganze Reihe von Jahren in der Pathologie, fein, dass sich das mal auszahlt." Mike saß fest wie in einem Kokon, als Roko die Treppe herunterkam und den Alukoffer auf den Tisch stellte. Während das Geschwisterpaar abwusch und Olga mit einem Lappen herumging, ließ der Professor sich Zeit, als würde er sich einen guten Whisky aussuchen und entschied sich schließlich für eine der grauen, versiegelten Ampullen. "Fertig”, verkundete er und wartete geduldig, bis alle wieder saßen. “Der wäre geeignet: sehr virenlastig, schnell und gründlich." "Also, wenn ich für den Mörder meines Sohnes", Olgas Stimme klang seltsam brüchig: es war das erste Mal, dass sie ihren Sohn als ihren Sohn ausgab, "die Wahl zwischen schnell und gründlich und langsam und schlampig hätte, ich würde letzteres nehmen." Rokos Augen wanderten von Olga zu seiner Enkeltochter, die beide pure Entschlossenheit ausstrahlten, achselzuckend beugte er sich erneut über den Koffer und tauschte stillschweigend die Ampullen aus. "So. Wir brauchen einen Plan, oder will jemand selbst mit dem da" - er schuttelte die Ampulle leicht - "in Verbindung kommen? Vorschläge?" Mike, der hölzern von einem zum anderen guckte wie jemand, der sich in einem Alptraum wähnt, den er für absurd hält, meinte vorsichtiger: "Wie wollt ihr das Fehlen einer Ampulle erklären? Denkt ihr echt, ihr kommt damit durch? Das wäre Mord, wenn es klappen sollte - ich kann ja auch überleben, bin jung." Kim: "Würd mich an deiner Stelle nicht darauf verlassen. Vorteilhaft sind gute Gene, Gesundheit und Fitness, eine grosse Klappe eher nicht. Im Gegenteil." "Oh, wie reizend", hatte Olga beide Brauen oben, "das Objekt macht sich unsertwegen Sorgen." Roko bedachte Mike wie einen seiner Studenten, war für Späße nicht in der richtigen Stimmung: "Das sind ausgesuchte Ultraproben. Ein Wattenstäbchen hier rein" - er hob die Ampulle - "und dann in die Nase, leider ziemlich weit hoch, aber keine Panik", beruhigte er den jungen Mann, "ich habe Erfahrung und bin vorsichtig. Merkt niemand." "Aber jedes Kind weiß doch, dass die diversen Mutationen ihren eigenen Stempel haben", beharrte Mike. "Kann man leicht bis nach Salten verfolgen." "Das laß mal meine Sorgen sein", wurde Roko ungeduldig. "Könntest du eine Weile die Klappe halten oder möchte seine Majestät lieber wieder auf den Pott? Wir haben einiges zu bereden, bevor es losgeht." Ruhig besprach die Gruppe, wer was zu tun hatte, während Mike da saß, als hätte er die Armen übereinander geschlagen, eine Haltung, die ihm dank Perlonstrümpfe nicht möglich war. Dann sackte er weg. "Nanu?" hatte Roko die Brauen wieder oben, Olga einen vorwurfsvoll wackelnden Zeigefinger hinhaltend. "Hast du ihm etwa wieder was reingetan? Dass mir das nicht zur Gewohnheit wird." "Nur ganz wenig", gab sie zu und erhob sich. "Wir können also in Ruhe packen, Spuren verwischen und derlei - macht man in Krimis so", belehrte sie. Roko schien nachzudenken. "Du meinst, den Dummkopf infizieren und einfach hier lassen?" Den Kopf schräg, starrte er fragend von Olga zu Kim: "Keine schlechte Idee... Wir könnten alles Eß- und Trinkbare wegschaffen und das Wasser so abstellen, dass er es nicht wieder anmachen kann. Ausgleichende Gerechtigkeit nennt sich sowas." Er warf einen Seitenblick auf seine Enkeltochter: "Ob du ihm ein wenig trockenen Wein oder Essig dalassen willst, bleibt dir überlassen. Geht das mit'm Wasser, Frau Handwerker?" Es ging. Es ging vor allem schnell, niemand schien länger als notwendig bleiben zu wollen. Nicht einmal Daniel, dessen Trägheit wie weggeblasen war. Innerhalb einer Stunde waren sie startklar. "Prima", äußerte sich Stadtpflanze Olga, sichtlich erleichtert, Mutter Natur verlassen zu können. "Alle einsteigen - soll ich fahren?" "Nein!" kam es unisono diesmal von Kim und Roko. "Tz", öffnete sie die Beifahrertür, den Sitz weit nach vorne verstellend, damit die junge Leute mehr Platz hatten. "Denn nicht, liebe Tanten!" "Kim?" hielt Roko die junge Frau am Ärmel, während der Rest einstieg. "Ja?" "Bist du sicher?" "Soll ich es machen? Verstehe ich vollkommen, dir ist bestimmt dein Hippokratischer Eid im Wege." Sie schien die Frage erwartet zu haben, verzog ein wenig den Mund, bevor sie hinzusetzte: "Hab paar Semester Medizin studiert, bevor mir klar wurde, dass Holz mir lieber ist." Er schüttelte den Kopf: "Das meinte ich nicht. Steig schon mal ein, bin in zehn Minuten wieder bei euch", setzte er mit fester Stimme hinzu, den von Daniel präparierten Hang hinunterkraxelnd. Der
Beschluß, Olgas Wagen zu nehmen, war alternativlos -
Daniels Auto war nicht
einmal angesprungen; seit dieser Erkenntnis war der junge Mann
wie ausgewechselt. Körperlich hatte
er im Alleingang alles Eß- und Trinkbare entsorgt -
entweder ins Auto oder in die Natur, nebenher wie besessen Olgas
Wagen mit platt getretene Kartons so nahe wie möglich
bugsierend, während er sich geistig verzweifelt abmühte,
die Trauer um den Vater und die Monsteraufgabe um seinen Flitzer
weit von sich zu schieben: Werkstätten anrufen,
Preise vergleichen, feilschen, mit geliehenen Autos hin und her
fahren, um nach den Rechten zu sehen. Während einer
Pandemie. Diese ungewohnte Doppelbelastung - geistig und
körperlich - ließ seine Kiefer unbeherrscht alle paar
Minuten knacken. "Neuwertiger E-Sportwagen günstig abzugeben, liegt umständehalber an einem pittoresken Hang in Bayern, alles inkl. Ferien in einer rustikalen abgelegenen (genießen Sie es, mal nicht Abstand halten zu müssen) Hütte direkt daneben. Besichtigung und Abholung sind bitte eigenständig vorzunehmen, danke." Seine Schwester würde ihm nicht helfen, war derzeit weder gesundheitlich noch sonst in der Lage und hatte Paps immer ermahnt, ihn nicht ständig zu pampern. Ja, Paps... erst jetzt traf ihn die Verlust eines Mentors und guten Freundes, der stets für ihn dagewesen war, mit voller Wucht. Mit halbem Ohr hörte er zu, wie Olga versuchte, Kim - mein Gott, ja, war ja ein Mädchen, muß man helfen, klar - zum Bleiben in ihrem Haus zu überreden: die ungute Erinnerungen, der Keller, die Polizei, die dort gewiß öfters aufkreuzen würde... "Keine Sorgen", wehrte seine tapfere Schwester etwas großspurig ab. "Paps hat uns gut versorgt, Klaras Häuschen am Rande von Salten ist abbezahlt, so viel ich weiß, besten Dank." Das war zuviel. "Vonwegen.
Nichts Paps", ritt Daniel irgendein Teufel, "Olga hat
uns all diese schöne Dinger besorgt. Eigentlich logisch, du
müßtest eigentlich wissen, was eine Tischlerei
finanziell so vermag und was nicht, liebe Schwester. Du kannst
also genauso gut zu ihr ziehen, ist gehüpft wie
gesprungen." Dann, mit gepreßter Stimme: "Woher willst du Trantüte das wieder wissen?" Trantüte?! Er war nicht empfindlich und den Spitzen seiner älteren Schwester gewohnt, aber sowas jetzt, wo er sich im absoluten Alarmzustand befand und dann noch vor Zeugen - das war zu viel. "Aus dem Testament von Paps, stell dir vor", schnappte er. "Dort bittet er uns um Verzeihung, so lange geschwiegen zu haben - es hat sich halt so ergeben beziehungsweise nicht ergeben. Erwähnt übrigens auch eine größere Summe, die er sich von deiner verschmähten biologischen Großmutter geliehen hat, hat leihen müssen, als sich herausstellte, dass die biologische Mutter seiner kostbaren Tochter entschlossen war, dich abzutreiben." "Moment", fiel ihm Olga ins Wort. "Er hat damals nicht gewußt, dass das Geld von mir stammte, meine Schwester hat es ihm erst sehr spät verraten - kurz vor ihrem Tod, wenn ich richtig informiert bin."; "Halte bitte sofort an!" zischte Kim. Klar doch. Sie fuhren auf der Autobahn, 'sofort' konnten sie knicken. Bei der nächster Auffahrt betätigte Roko den Blinker. "Nicht!" protestierte Olga. "Verdammt, Roko, sie ist noch lange nicht übern Berg!" Er bog ab. "Bitte!" setzte Olga mühsam hinzu. Sie saß stocksteif auf dem Beifahrersitz, eine Hand an der Autotür, als könne sie so alle Türe zuhalten. "Sorry", Roko starrte stirnrunzelnd nach rechts bei den Geräuschen des vergeblichen Öffnen der linken Tür hinten. "Olgachen", machte er sanft. "Wie sagstest du, als es mit Elisabeth zu Ende ging: Loooslassen." "Very funny!" schnaubte sie auf. "Mein ganzes Leben ist ein einziges Loslassen!" Wütend entriegelte sie mit einem doppelten "Tock, tock" die Kindersicherungen hinten. Vorne saßen über hundertsechzig Jahre ohne Worte und ohne sich zu bewegen, während Kim mitsamt Rucksack ausstieg. "Macht euch keine Sorgen!" kam es reuevoll von hinten, sobald ihre Gestalt grußlos davongeeilt war. "Ich laß sie nicht aus den Augen, versprochen. Was für ein beschissener Tag", setzte er entschuldigend hinzu, ebenfalls seinen Backpack umwerfend. "Dein Auto macht dir Kummer?" heischte Olga, die sich während Kims und Rokos Intermezzo in der Küche mit dem jungen Mann unterhalten hatte. "Laß Papiere und Schlüssel hier, sims mir eine Blankovollmacht und ich erledige das. Und melde dich bitte! Meine Nummer hast du ja." Zu aufgebracht, sich auch nur umzudrehen, konnten die alten Leutchen mehr vermuten als hören, wie etwas auf den Rücksitz abgelegt wurde: hätte der Lümmel mit dem Testament nicht warten können, verdammt?! "Danke, Olga!" kam es vom Herzen. "Bis die Tage!" "Hast du ihm das beigebracht?" wollte der Fahrer wissen, als sie bereits eine ganze Weile dahinfuhren, als säßen sie in zwei verschiedenen Autos. "Was?" "'Bis die Tage!'", zitierte er, affektiert ihre krächzende Stimme imitierend. Ohne hinzusehen wuchtete
sie ihm ihre mit einigen Flaschen Painkillers gefüllter
Handtasche an der Brust. "Das erzähl ich Elisabeth." VII. versenk's in den teich Salten ist eine schöne
kleine Stadt. Wie tausende andere - etwas stiller wohl dank der
kompletten Verkehrsberuhigung. Das Besondere waren die Saltener
selbst. Welche Stadt kann das von sich behaupten - und wenn,
spricht das eher gegen die Stadt oder für deren Bewohner?
Nicht dass Salten äußerlich nichts zu bieten hatte.
Ein harmonischer Mini-Cocktail aus Lübeck und #Utrecht, dem
ein wenig San Francisco nicht schlecht täte: die Trams
würden hier gut hinpassen. Das Alter war auch da, zusammen
mit einer Geschichtsträchtigkeit, die einige Saltener
veranlaßt hatten, unterhaltsame Kinder- und Sachbücher
darüber zu schreiben, die sogar in den Schulen eingeführt
worden waren. Vor dem letzten Weltkrieg noch ein prachtvoller Schloß mit Türmchen und Zugbrücken und schrulligen Schloßbewohnern, entfachte ein ursprünglich Hamburg zugedachtes Bömbchen ein Feuer: lichterlohe Aufforderung genug für weitere Bomben, bis vom Schloß nur das U übrig war, das bald "Huf Saltens" genannt wurde und imposant und altertümlich genug, Denkmalschützer auf den Plan zu rufen. Selbst wenn oder gerade weil es in Form einer Stiftung der Stadt gehörte - ein Geschenk des letzten kinderlosen Schloßherrn, der sich gewiß nicht hatte träumen lassen, damit soviel Verwirrung zu stiften. Wie fast alles im Leben war es gut gemeint und sollte den Kulturgütern Saltens, die zu dem Zeitpunkt im alten verfallenen Museum vor sich hingammelten, einen würdevollen Rahmen verschaffen, ja - sie mittels Schloßinventar seiner Tanten vergrößern. Obwohl es unwahrscheinlich war, dass der kerngesunde Schloßherr beabsichtigt hatte, vor seinen bedeutend älteren drei Tanten zu sterben, hinderte dies das entrüstete Dreiergepann nicht, ihre beweglichen Güter testamantarisch in den verdammten Teich zu versenken oder ihrethalben an die Hamburgern zu verscherbeln, bloß: ins Schloß kam das Zeug ums verrecken nicht. Punktum. Angesichts der Verfügung des Schloßherrn, mindestens siebzig Prozent des Schloßes kulturell belegen zu müssen, eine harte Nuß. Ohne Tantenerbe reichte die bewegliche Kultur Saltens nicht aus, auch nur einen Bruchteil der Räume zu füllen, während Tanten-Inventar plus Schloß plus restliche Kulturgüter Saltens dem kleineren Städtchen locker zu der Attraktion im Norden Deutschlands und darüber hinaus hätte machen können. Der Dauerstreit um diese
70% ging durch alle Schichten, durch einzelne Familien und hatte
Salten irgendwann derart entzweit, dass nichts mehr lief. Es
mußte erst jemand sterben, um die allmähliche
Erkenntnis in Gang zu setzen, wegen nichts und wieder nichts
jahrzehntelang Beziehungen aufs Eis, Freundschaften verleugnet
und Verwandte ignoriert zu haben, die Einsicht, dass nicht nur
einige, sondern alle Recht beziehungsweise Unrecht hatten und
weder der Schloßherr noch deren Tanten etwas dafür
konnten. Niemand. Was für eine Verschwendung! Das prägte.
Aus dieser Zeit entwickelten sich die monatlichen Bürgertreffs,
die Neigung, ihre Angelegenheiten unter sich auszumachen, der
Widerwille, fast Ekel vor Manipulation, vor Schreihälse und
Ellenbogenmentalität. Sie hatten am eigenen Leibe erfahren,
wie man sich auf keinen Fall streitet. Vergaß einer von
ihnen es, wurde er mit einem Satz daran erinnert und zur Vernunft
gebracht: Entweder dieses Stück Geschichte war noch nicht bis zum armen Großstadtpflänzchen Olga mit den ewigen Prozessen, durchgedrungen oder sie hatte es vergessen, daher konnte sie nicht anders als fragend gucken, als Roko den Satz von sich gab: "Laß es uns doch in den Teich versenken!" Geduldig erzählte Roko ihr die Geschichte vom Schloßherrn und deren Tanten. "Ach so", äußerte die alte Frau sich ungläubig, als hätte er ihr einen unsittlichen Antrag gemacht. "Deswegen also krieg ich hier keine Anwälte?!" "Wir Saltener sind der Meinung, unsere Angelegenheiten unter uns ausmachen zu müssen - sollte es mal nicht klappen, gibt es ehrenamtlichen Schiedsstellen, die in der Regel aus bewährten Familienoberhäuptern über 80 bestehen und regelmäßig überprüft werden. In den meisten Rechtssachen geht es den meisten Anwälten doch bloß ums Geld und nicht ums Recht, wie gerade du eigentlich wissen solltest. Guck dir mal unser Bundestag an und staune." Sie saßen wieder mal beim koffeinfreien Kaffee ohne Kuchen, diesmal auf Olgas vorderen Veranda, vorschriftsmäßig durch einen großen Tisch voneinander getrennt. "Ich soll ernsthafte Rechtsangelegenheiten vor sich hinsabbelnden Grufties überlassen? Hast du dein Hirn offen, mein Lieber?" Klingeltöne ersparten
dem Professor eine Antwort. Olga zog sich erfreut am Geländer
hoch, winkte und rief, als befänden sie sich auf dem
höchsten Baum im Hamberger Wald: Für diese Jahrezeit war es viel zu warm, Olga erwog ernsthaft, den Sommer in Norwegen zu verbringen und suchte im Internet bereits nach passenden Immobilien. Sie hatte "the family", wie sie das Quartett entzückt bei sich nannte, zusammengetrommelt um die Anzeige zu besprechen, die gegen Roko vorlag wegen versuchten Mordes, Körperverletzung, Freiheitsberaubung, Verletzung einer Reihe von ärztlichen Fürsorgepflichten, Amtsmißbrauch, Untreue u.a. Mike war nach seinem Bayrischen Abenteuer nach Hamburg gereist und hatte dem Mediziner von dort aus einen guten Rechtsanwalt auf den Hals gehetzt - ebenfalls aus Hamburg. Die Anklage ging über fast fünf DIN-A1-Seiten und beschrieb Kopfschmerzen, Luftnot, totale Erschöpfung, Depressionen, Bewegungsstörungen undsoweiter, die bis heute nicht verschwunden und chronischer Natur waren: der junge Mann war angeblich arbeitsunfähig und auf eine stattliche Rente inkl. Schmerzensgeld aus. Olga war vom Hamburger Anwalt gewogen und als zu schwer befunden, die beiden Geschwister von Mike nicht einmal erwähnt worden. Ein unbedarfter alter Professor mit weißer Weste hatte mehr zu verlieren, immerhin hatte er die eigens mitgebrachte "Tatwaffe" bei vollem Bewußtsein und Wissen geführt, keine Kleinigkeit. Natürlich war Olga Feuer und Flamme, eine Gegenklage zu lancieren, was bei Kim auf höfliche Aufmerksamkeit stieß, während Daniel sich heraushielt. "Laßt uns das ganze in den Teich fallen", brachte Roko das Saltener Motto zum zweiten Male an, bei den jungen Saltenern sofort eine Reaktion hervorrufend. "Das sieht nach einem Schuldeingeständnis aus!" wehrte sich Olga empört. "Haben wir das nötig?" "Wir?" wiederholte Roko amüsiert. "Euch ist klar, dass es dem Dummkopf nur ums Geld geht, der ist nicht nur pleite, er hat einige Gläubiger am Hals, dem ich am hellichten Tag auf der Fußgängerzone nicht einmal 'guten Tag' sagen würde. Alle Beteiligten waren zum Zeitpunkt in Salten gemeldet; sobald der Anwalt merkt, hier ist nichts zu holen, im Gegenteil, wird er ihn fallenlassen wie eine heiße Kartoffel. - Kim?" sah der alte Mann seine Enkeltochter direkt an. "Was möchtest du? Wir richten uns komplett nach dir" - er sah zu den anderen hin und zwinkerte - "Wir können das auch unter vier oder sechs Augen besprechen, wenn dir das lieber ist." Olga öffnete den Mund
wie zum Protest und klappte ihn wieder zu. Ihre Enkelin sah es
und verzog den Mund, schien auf irgendwas zu warten. Um Kims Mund zuckte es: "Der Tee schmeckt hervorragend. Setz dich wieder, bitte, Olga." "Oh!" gehorchte diese sofort, von einem Ohr zum anderen grinsend. "Andrerseits kann ich auch hervorragend die Klappe halten." "Wenn ich daran denke", fing Kim mit brüchiger Stimme nach einer Weile so leise an, dass alle sich unwillkürlich vorbeugten, "dass ein klares Wort von mir gereicht hätte und Paps wär noch am Leben. Egal wie unerfreulich für beide, dafür aufrichtig: scher dich zum Teufel, du Arschloch! Aber nein, ich mußte mich unbedingt rächen, ich Idiot!" "Nein, Kim", widersprach Roko ruhig. Sie hob abwartend die Brauen: Skepsis mit einer gehörigen Prise Bereitschaft, sich überreden zu lassen. "Ich habe mir die Krankenakten kommen lassen und mit den behandelnden Kollegen gesprochen: seine Lungen waren schon vorher nicht zu retten. Das Suchen nach dir hat ihn allenfalls abgelenkt; und wem schon einmal die Luft ausgegangen ist, weiß, wie unangenehm allein die ständige Angst davor ist - das ist ihm erspart geblieben. Lungenkrebs in fortgeschrittenem Stadium ist unheilbar, Kim, zumal bereits damals Metastasen da gewesen sein müssen, spätestens nach zwei Monaten wäre es aus gewesen. Allerspätestens. Bei optimalsten Bedingungen. Du hast ihn besser gekannt: hätte er sich einige Organe rausschneiden lassen, um sich ein paar Wochen Armseligkeit herauszuwürgen? Von der Bestrahlung und Chemietherapie, einmal zu schweigen. Ich, ehrlich gesagt, nicht." Roko holte Luft, als er sah, dass Kims Brauen sich zwar etwas gesenkt hatten, ihre Zweifel jedoch nicht. "Er war mein Sohn und ich bin letztendlich Wissenschaftler, daher wollte ich es genau wissen, besonders seine letzten Tage interessierten mich, also habe ich nicht nur Daniel wie eine Zitrone ausgequetscht. Möchtest du es hören?" Jetzt hatte er sie, sie nickte. "Euer Paps hat es als Erkältung, allenfalls Bronchitis abgetan, ist aber weder in strömendem Regen rausgegangen noch hatte er sich überanstrengt. Er hat sich deinetwegen Sorgen, aber er hat sich nicht verrückt gemacht - er hatte Vertrauen. Bettruhe hätte ihn nicht geheilt, weißt du." Er hob eine Hand, als würde sie ihn unterbrechen wollen, was nicht der Fall war: "Ich weiß, ihr habt ihm beide gut zugeredet, sich endlich ordentlich untersuchen zu lassen, aber fast möchte ich unterstellen, er hat gewußt oder geahnt, dass es sinnlos war und wollte den 'short cut' wie es eine gewisse Dame formulieren würde" - er warf der stumm dasitzenden Olga einen verschmitzten Seitenblick zu: endlich hatte er mal das Wort. "Deine scheußlichen Anglizismen machen mich wahnsinnig, by god", erklärte er, bevor er sich erneut seiner Enkeltochter zuwandte: "Ich kenne deine Einstellung nicht, meine ist, dass Liebe ohne Respekt keine Liebe ist. Persönlich bin ich der Ansicht..." Kim hob eine Hand und beendete den Satz: "...dass er seine letzten Tage lieber mit seinen beiden Kindern verbracht hätte, aber du hast Recht: er wäre nicht ins Krankenhaus gegangen." Roko sah in ein Paar Augen, genauso gerötet wie die eigenen: "In Ordnung?" "In Ordnung..." Diesmal war sie an der Reihe zu zaudern, fragte dann: "Du hast Mike nicht wirklich mit dem Virus infiziert, oder?" Das Fragezeichen war gerade noch herauszuhören. "Was denkst du?" "Nein", kam es mit fester Stimme. Sie setzte hinzu: "Ist in Ordnung, hätte ich an deiner Stelle auch nicht geschafft - und einen Fast-Mörder zum Opa? Nee, muß ich nicht haben." "Schlappschwanz!" war es Olga unmöglich, sich länger zurückzuhalten. "Also mir wäre ein ehrlicher Mord lieber gewesen". Plötzlich holte sie Luft und mußte lange und herzlich lachen, mit Tränen in den Augen bekannte sie endlich: "Ich habe seine Krankenakte gelesen, der hat tatsächlich geglaubt, im Sterben zu liegen und war wochenlang richtig suuuperkrank! Ein anonymer Anruf bei der Polizei ein paar Tage nach unserem Abgang hat dafür gesorgt, dass dieser Mistkäfer bereits drei Tage später gerettet wurde." Die alte Frau vermied den Blickkontakt mit ihrer Enkelin, bevor sie hinzusetzte: "Wie krank er sich auch wähnte - tz, wohl allenfalls einer Magenverstimmung vom vielen Weißwein - hat der Egomane wohlweislich verschwiegen, um als angeblicher Enkelsohn des berühmten Corona-Professors zum Bahnhof chauffiert zu werden, und von dort mit dem Zug nach Hamburg. Ohne Skrupel das Leben der beiden Polizisten und ahnungslosen Bahnpassagiere aufs Spiel setzen ist schon starkes Stück, find ich!" Roko hatte mißbilligend zugehört: "Woher hast du das schon wie...?" Weiter kam er nicht. "Aber Kim; das ist doch brilliant!", wandte Olga sich begeistert an ihre Enkeltochter: "Die Gegenseite hat also gar nichts in der Hand! Mensch, wir könnten den kleinen Scheißer zu Tode prozessieren!" Die junge Frau lächelte. Schief, aber immerhin. "Nein." Es klang endgültig. "Oh hell!" entfuhr es der streitsüchtigen alten Dame geschmeidig. "Why don't you guys piss in your fuckin' lil Teich, damn it!" "Olga!" kam es
fast gleichzeitig aus drei Kehlen, wie ein Staccato von Mozart. ende Salten ist überall, ob einzeln oder als Familie oder als komplette Nachbarschaft - habe auch von ganzen Dörfern gehört, deren mutige Bewohner sich durchsetzen konnten. Chapeau! Dennoch sind alle Figuren frei erfunden - eine Ausnahme: die Olga. Mir war nach etwas mit Ehrgeiz, nach einer zänkischen alten Erfolgsfrau - sofort ist mir eine Bekannte eingefallen, die auch irgendwo auf der HP erwähnt wird: Ursula Laabs. Bin sicher, die Geschichte hätte ihr gefallen, aber doch froh, sie nicht fragen zu müssen, sie hätte bestimmt etwas komplett anderes daraus gemacht - wahrscheinlich hätte ich es nicht einmal gemerkt. Die Geschichte selbst ist natürlich erfunden, ich konnte aber nicht widerstehen, das mit den Haushaltstüchern mit reinzunehmen. Die Pampe ist bei mir stundenlang aus dem Klo geschwommen, weil ein älteres Paar unterm Dach Haushaltsrollen mit Klorollen (oder was weiß ich) verwechselt hatte - ich verbürge mich also für die Machbarkeit, möchte aber selbst-ver-ständlich niemandem animieren. Außerdem habe ich die Kellerszene leicht abgeändert aus 'gesiebtes brot' übernommen - kein Plagiat, weil von mir selbst geschrieben - Kellerszenen sind nicht so meins, einmal schreiben reicht. Die Gelegenheit möchte ich nutzen, mich hier abschließend bei meiner Famile zu bedanken, die mich erdet und dafür sorgt, dass ich nicht komplett in meiner eigenen Welt verschwinde: hab euch lieb! Paßt auf euch auf, nick(i)/monique me & corona©hexandthecity.eu - dezember 2020 P.S. Nachdem die engl.
Version ("off the beach", seit Mitte 2021 online)
ausgerechnet wegen einiger deplazierten Zwischenrufen meinerseits
besser sein soll (übersetzen ist nicht immer unterhaltsam,
und die Gelegenheit, meiner Familie in NL/USA einiges zu
erklären, ohne gleich eine Autobiographie schreiben zu
müssen, war unwiderstehlich), erwog ich so etwas auch hier
einzubauen, allein... hier paßt es nicht. Die Botschaft
über meine grottenschlechte Kommunikation ist aber
angekommen, daher einige Erläuterungen zu mir bzw. zu dieser
Website: Angefangen hat es 2004 mit dem Hexenhaus, ein stummes
Plädoyer gegen das diarhöische Fließen im
weltweiten Geldsumpf, um vorhandene Menschlichkeit und
Solidarität sichtbar zu machen - es gibt viel mehr
wunderbare Sites - mag jemand übernehmen? Es folgten
drei/vier Infokarten über #Lübeck, wo ich - mit
Unterbrechungen - seit 1975 lebe: hexandthecity was born.
Anstelle der üblichen blauen und pinkfarbenen
autobiographischen Donuts schmiß ich mit Erzählungen,
Essays, short stories, Rätsel und Episoden um mich (wir
Holländer mögen eh lieber frische Oliebollen). Wem das
zu wenig Donuts/Oliebollen sind: "das #heulmeisje und ich"
verrät etwas mehr, unser beider Leben sind derart
miteinander verwoben, dass ich das eigene Twitteraccount gelöscht
hab, um das Mädchen wenigstens hier am Leben zu lassen -
werde auch nicht jünger. P.S.II Ihr habt Recht, die Übersetzung IST besser, habe daher halbwegs beschlossen, nur noch in Englisch zu schreiben – irgendwer kann es ja übersetzen. |